
Haben Sie schon von der „Let-them-Theorie“ gehört? Wann immer man sich über eine andere Person ärgert, Neid verspürt oder sich wünscht, das Gegenüber verändern zu können, sagt man sich: Lass sie doch. Let them. Populär gemacht hat dieses Mantra die amerikanische Autorin, Motivationsrednerin und Podcasterin Mel Robbins. Sie glaubt: Ihre „Let-them-Theorie“ werde Menschen dabei helfen, sich weniger Gedanken darüber zu machen, „was andere denken, sagen oder tun“. Sobald man erkenne, schreibt die Autorin in ihrem gleichnamigen Bestseller, dass man andere Menschen nicht verändern könne, habe man „die Energie, sich auf das eigene Leben zu konzentrieren“. Der Kollege, der zuerst befördert wurde? Die Schwiegereltern, die sich in die Kindererziehung einmischen? Die Freundin, die einen nicht zum Abendessen eingeladen hat? Lasse sie!
Wenn ich mich einmal richtig über etwas ärgere, dann verfolgt es mich bisweilen stunden-, manchmal sogar tagelang. Gleiches gilt für Gefühle wie Stress, Scham oder Sorge. Könnte Mel Robbins‘ „Let them“ mir dabei helfen, entspannter durch den Alltag zu gehen? Ich will der Sache eine Chance geben. Weil die amerikanische Originalausgabe ausverkauft ist, erwerbe ich das Hörbuch und erhalte einen digitalen Vorabdruck des Buches, das am 1. Mai auf Deutsch bei Goldmann erscheint. Auch ein Interview frage ich an – in den nächsten zwei Wochen soll ich die Autorin mit über neun Millionen Instagram-Followern sprechen können. Bis dahin begleitet mich ihre sonore Stimme durch den Alltag, sie liest das Hörbuch selbst. Fortan laufe ich mit meinen weißen Kabelkopfhörern durch Berlin und murmle abwechselnd „Let them“ und „Let me“ vor mich hin. Zu „Lass sie“ gehört nämlich noch ein Zusatz: „Lass mich“. „In dem Moment, in dem etwas passiert, das dich stresst, sagst du Lass sie. Drücke mental auf die Pausetaste. Dann sage Lass mich und atme tief durch“, erklärt Robbins. „Übernimm die Kontrolle und gewinne deine Macht zurück.“
Wie wir in Deutschland sagen: nicht mein Bier
Mel Robbins schreibt, dass diese Worte ihr Leben verändert hätten. „Auf einen Schlag schien es, als sei mir vieles einfach egal und als stünde ich auf seltsame Weise über den Dingen.“ Ich stehe nicht über den Dingen, sondern an einer belebten Kreuzung im Berliner Osten. Ab in den ersten Stresstest: den Straßenverkehr. Zu Fuß laufe ich zur Trambahn. Die U-Bahn rollt, der Berufsverkehr stockt, überall sind Lieferfahrräder, Paketboten, E-Roller, Fahrradfahrer, Fußgänger, Autos. Es ist unendlich laut. „Aggressives Fahrverhalten und dichtes Auffahren stressen Autofahrerinnen und -fahrer am meisten“, ergab 2024 eine jährliche Umfrage unter ADAC–Mitgliedern. An einer roten Ampel veranstaltet ein Mann ein gewaltiges Hupkonzert und macht rüde Gesten in Richtung der Frau im Auto vor ihm, die es gewagt hat, an der gelben Ampel zu halten. „Männer!“, denke ich wütend, aber nein, ich soll ihn ja lassen. Durchatmen. Let him. Oder wie wir in Deutschland sagen: nicht mein Bier.
„Der wichtigste Teil der Let-them-Theorie ist der zu verstehen, dass du für dein eigenes Glück verantwortlich bist. Du bist für die Energie verantwortlich, die du einbringst, und dafür, wie du dich gibst.“ Auf Deutsch klingen Robbins Sätze etwas hölzern, als wäre unsere Sprache nicht gemacht für ihren Ted-Talk-Stil. (Mel Robbins‘ Ted Talk von 2011 zum Thema „Wie man aufhört, sich selbst zu verarschen“ haben bis heute über 33 Millionen Menschen angeschaut). Dem Hörbuch höre ich gern zu, vor allem wenn Robbins streng wird. In meinem Freundeskreis nennen wir das Tough Love: unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Davor hat Mel Robbins, 56 Jahre alt, Mutter dreier Kinder, wohnhaft in Vermont, wahrlich keine Scheu. „Let them“ habe sie für sich entdeckt, als sie sich über ihren Sohn aufregte, der vor seinem Abschlussball keine Reservierung für sich und seine Freunde ausgemacht hatte. Sie steigerte sich rein, bis ihre Tochter sagte: Lass ihn doch einfach. Lass ihn keine Reservierung haben, lass ihn im schicken Anzug im Regen nass werden. Für Robbins kamen die zwei lächerlich einfachen Worte einer Offenbarung gleich.
Ohne „Let them“ kein „carpe diem“
Im Mai 2023 postet sie ein Video über ihre Entdeckung auf Social Media, das viral geht. Sie nimmt eine Podcastfolge auf, und als sich immer mehr Menschen „Let them“ auf den Körper tätowieren lassen, beginnt sie, gemeinsam mit ihrer Tochter Sawyer am Buch zu arbeiten. „The Let Them Theory“ erscheint Ende 2024 und ist nicht ihr erster Bestseller – der Durchbruch gelang ihr 2017 mit dem Motivationsratgeber „The 5 Second Rule“. Auch Kritik wird laut: Man sagt, Robbins habe sich von einer Dichterin namens Cassie Phillips inspirieren lassen. Die Bestsellerautorin beruft sich derweil auf die alten Griechen mit ihrem Stoizismus, auf Buddhismus und Verhaltenstherapie und behauptet gar nicht, die Begrifflichkeiten erfunden zu haben. Aber: Sie ist es, die das Buch geschrieben, die Phrase populär gemacht und sie damit auch kapitalisiert hat.
Ihr Buch versteht sie nicht als wissenschaftliche Abhandlung. „Let them“ sei ein Werkzeug. Sie berichtet von eigenen Rückschlägen: von 800.000 US-Dollar Schulden, Alkoholsucht, Arbeitslosigkeit, von der einen Tochter, die mit dem besseren Stoffwechsel der Schwester hadert. Es wird ziemlich privat, aber Intimität garantiert die Identifikation der Leserschaft. Tatsächlich findet man sich in vielen ihrer Anekdoten wieder – insbesondere wenn es um Neid und Erfolg, Freundschaften, den eigenen Social-Media-Kanal oder die ewige Sorge geht, was andere über einen denken könnten.
„Ich verstehe, dass andere nervig sein können, und ja, du hast viel um Ohren. Das moderne Leben kann sich anfühlen wie tausend Nadelstiche – eine Sache nach der anderen, die dir langsam, aber sicher die Energie raubt und dich fertig macht.“ An diese Worte erinnere ich mich, als ich seit einer Stunde im überfüllten Wartezimmer einer Arztpraxis warte und klar wird, dass eine der Ärztinnen ausgefallen ist. Als ich frage, wie lange es wohl noch dauert, seufzt die Sprechstundenhilfe bloß. Sie ist sichtlich gestresst. Mich aufzuregen, wird meine Wartezeit nicht verkürzen. „Lass sie“, flüstert Mel Robbins in mein Ohr. Also mache ich einen neuen Termin aus und verlasse die Praxis als angenehm befreiter Mensch.
Die Phrase hilft dabei, sich bewusst zu machen, dass man sich viel zu oft über kleine Dinge ärgert, die man ohnehin nicht ändern kann – und dass es keinen wirklichen Grund gibt, sich aufzuregen. Doch wie steht es um handfeste Meinungsverschiedenheiten? Die Autorin schreibt: „Wir alle lieben es, uns Entschuldigungen dafür auszudenken, warum Menschen, die das haben, was wir uns wünschen, sich irgendwie von uns unterscheiden: Sie wurden in wohlhabende Verhältnisse hineingeboren. Sie sind attraktiver. Ihr Leben ist leichter gewesen. Sie haben Glück gehabt. Es tut mir leid, es dir sagen zu müssen, aber das sind faule Ausreden. Es gibt keinen Unterschied zwischen dir und den Menschen, die Außergewöhnliches erreichen.“ Macht Robbins es sich damit nicht zu einfach? Für mich klingt das nach der längst auserzählten Geschichte des amerikanischen Traums. Wenn nicht alle mit den gleichen Chancen starten, wird der Tellerwäscher mit harter Arbeit allein nicht zum Millionär.
Sein lassen oder nicht sein lassen, das ist hier die Frage
Ich würde Robbins gern fragen, wie man „Let them“ in einer Debatte anwendet. Was ist, wenn ich meinem Gegenüber seine Meinung lasse, er mir meine aber nicht? Ich denke an Politik, das Thema, das wie kein anderes Ärger, Unmut, Stress und Streit auslösen kann. In polarisierten Zeiten, schreibt Robbins, sei es unmöglich, „mit den meisten Menschen, die eine andere Meinung vertreten, eine zivilisierte Unterhaltung zu führen, weil sich keiner von uns wirklich die Zeit nehmen will zu verstehen, was der andere denkt, und warum.“ Wie also könne man die Let-them-Theorie nutzen, um die Politik zu verändern, fragt sie. Und antwortet: „Es funktioniert nicht.“ Die Wahl sei vorbei. „Du kannst nicht ändern, was gerade passiert“, schreibt Robbins, um im nächsten Absatz anzumerken, dass man Einfluss auf die Zukunft nehmen könne: „Sitze nicht herum und warte darauf, dass jemand anderes das Chaos um uns herum beseitigt.“
Was denn nun? Sein lassen oder nicht sein lassen? Ist es nicht brandgefährlich, in Zeiten eines immensen Rechtsrucks mit den Schultern zu zucken und „Lass sie“ zu sagen? „Let them“ sei keine Ausrede, „in einer verletzenden Situation auszuharren, Diskriminierung oder gefährliches Verhalten zu ignorieren“, schreibt die Autorin. Aber könnte die Haltung nicht trotzdem dazu führen, dass wir ignoranter werden? Empathie verlieren? Uns nicht zur Rechenschaft ziehen? Oder geht es letztlich nur darum, die Energie nicht ins Sich-Ärgern, sondern in etwas Konstruktives zu stecken? Ich freue mich mittlerweile richtig auf das Gespräch mit ihr, ich habe nämlich viele Fragen. Dann erreicht mich eine E-Mail: Mel Robbins sagt das Interview ab. Und jetzt? Soll ich mich beschweren, bitten, Druck machen, mich ärgern? „Lass sie“, flüstert eine Stimme in meinem Kopf, und ich seufze.
Das Buch
Mel Robbins: Die LET THEM Theorie. Goldmann, 364 Seiten, 20 Euro.