
Isabella ruft: „Drei, zwei, eins – looooos!“ Dann stößt sie sich ab und saust die Rutsche hinunter. Als sie unten ins Wasser eintaucht, spritzt es in alle Richtungen. Als Isabella wieder auftaucht, schwimmt sie sofort zum Beckenrand, klettert hinaus und läuft zurück zur Leiter der Rutsche. Oben angekommen, beginnt alles von vorn: „Drei, zwei, eins – loooos!“
Dieser Tag im Juni ist einer der ersten heißen des Jahres, die Sonne brennt vom Himmel, das Thermometer zeigt 28 Grad an. Isabella ist 6 Jahre alt und gemeinsam mit ihrem älteren Bruder Gabriel und ihrer Mutter hier im Familienbad im Schweizergarten in Wien. Sie will sich abkühlen und spielen.
Dafür kommen sie oft her, erzählt die Mutter. Und wenn sie da sind, tun sie, was viele Kinder im Freibad tun – rutschen, planschen, toben. Der Ort ist allerdings ein besonderer: Das Bad wurde 1923 eröffnet, also vor mehr als hundert Jahren! Und es ist eins von vielen, die damals extra für Kinder gebaut wurden.
Es war eine Zeit, in der besonders viele Menschen in die österreichische Hauptstadt zogen. Sie wollten hier arbeiten und hofften auf ein gutes Leben. Viele saßen aber in kleinen Wohnungen ohne ein eigenes Badezimmer oder Klo. Die Räume waren eng, feucht und dunkel, sodass viele Menschen krank wurden. Erwachsene, aber auch Kinder.
Da hatte der Arzt und Politiker Julius Tandler, der später für die Gesundheit der Menschen in Wien zuständig war, eine Idee: Wie wäre es, extra für Kinder Bäder im Freien zu bauen? Dort könnten die Jungen und Mädchen sich an der frischen Luft bewegen und erholen. Und zwar kostenlos.
Eingefallen war Tandler das, als er Kinder im Wienfluss am Stadtrand sah. Man hatte dort Wasser in einem Becken aufgestaut, und als es 1917 eröffnet wurde, war der Andrang riesig. Tandler überlegte: Könnte man nicht auch abseits von Flüssen solche Freibäder bauen? Überall in der Stadt – und vor allem in der Nähe der Kinder in den engen Wohnungen?
Das Geld, das die Stadt für den Bau der Schwimmbecken ausgeben müsste, würde sich später auszahlen, dachten sich Tandler und andere Politiker damals. Denn gesunde Kinder würden eher zu gesunden Erwachsenen – nicht zu Männern und Frauen, die viele teure Behandlungen im Krankenhaus brauchen. Im Jahr 1919 wurde das erste Kinderfreibad im Auer-Welsbach-Park in Wien eröffnet. In den Jahren darauf folgten viele weitere.
So wie das im Schweizergarten, wo Isabella und Gabriel noch immer herumplanschen. Es liegt in einem Park, umgeben von hohen Häusern. Zum Bahnhof in der Nähe läuft man nur wenige Minuten, hinter dem Zaun des Bades zischt manchmal ein Zug vorbei. Man hört die Besucher in vielen Sprachen reden. So wie in einer Stadt die unterschiedlichsten Menschen leben, sollen sich auch alle Kinder hier treffen dürfen – egal ob sie viel Geld haben oder wenig, egal an welchen Gott sie glauben und welche Sprache sie sprechen. Hubert Teubenbacher, der Chef der Wiener Bäder, sagt: „Hier ist jeder willkommen!“
So war das von Beginn an gedacht. Alle Kinder sollen „in Sonne, Luft und Wasser gedeihen“, sagte der Bürgermeister Karl Seitz 1928, als er mal wieder ein neues Kinderfreibad eröffnete. Es gehe vor allem darum, „unsere Jugend gesund und tüchtig zu machen“. Jedes Kind in Wien sollte ein kostenloses Kinderfreibad in der Nähe seiner Wohnung haben, wie einen Spielplatz oder einen Kindergarten. So wurden über die Jahre immer mehr Badebecken gebaut, oft in Parks der Stadt. Vor 50 Jahren gab es mehr als 30 überall in Wien.