
Sechstes Pariser Arrondissement, Quartier Saint-Germain-des-Prés, ein grauer Vormittag im Oktober. Mitten in der größten politischen Krise der Fünften Republik empfängt Bruno Le Maire die F.A.Z. in seinen eigenen vier Wänden zum Gespräch. In der Wohnküche duftet es nach Kaffee, der Blick fällt auf ein Kunstwerk seiner Frau Pauline. Der Mann, der als langjähriger Superminister für Finanzen, Wirtschaft und Industrie aus Sicht vieler Franzosen eine große Mitverantwortung trägt für die Probleme seines Landes, sieht sich weiter als Akteur des öffentlichen Lebens und nicht bloß als Beobachter.
Als Sonderberater des Halbleiterkonzerns ASML sei sein Betätigungsfeld nun gleichwohl die Industrie, nicht die Politik, betont Le Maire. Wobei er auch klarstellt, mit 56 Jahren nicht aufzugeben, wofür er stehe. Ein Vierteljahrhundert lang habe er für sein Land und für Europa gekämpft. Das gelte nicht zuletzt für die deutsch-französische Freundschaft, die für den Schriftsteller Le Maire über das Politische hinausgeht. Die Frage, ob er noch Präsidentschaftsambitionen hege, umschifft er, der mehrere seiner Werke deutscher Kultur und Musik gewidmet hat.
An Selbstbewusstsein mangelte es Le Maire noch nie. Es heißt, er habe schon als Kind Präsident werden wollen. Von Mai 2017 bis September 2024 verantwortete er als Finanzminister Präsident Macrons Haushalt. Am 5. Oktober kehrte er überraschend als Verteidigungsminister zurück – für gut 24 Stunden. Seine Nominierung verstörte seine früheren Parteifreunde bei den Republikanern zutiefst.
„Aus Pflichtbewusstsein“
Wie konnte es dazu kommen, dass er eine der schwersten Regierungskrisen auslöste? Er habe sich erst in letzter Minute und auf Drängen Macrons dazu bereit erklärt, als Verteidigungsminister in die Regierungsverantwortung zurückzukehren, ist Le Maire wichtig zu betonen. In der Woche vor der Bekanntgabe der Kabinettsliste habe er dreimal eine entsprechende Anfrage abgelehnt. Erst am Sonntagnachmittag habe er sich bei einem Anruf des Präsidenten überzeugen lassen – „aus Pflichtbewusstsein“, wie er sagt. Mit Blick auf die Rüstungsstreitigkeiten zwischen Paris und Berlin schien der Deutschlandkenner eine gute Wahl.
Kurios ist, was Le Maire über den weiteren Verlauf des Tages berichtet. Kurz nach 21 Uhr beschwerte sich der Vorsitzende der Republikaner, Innenminister Bruno Retailleau, öffentlich über die Rückkehr jenes Ministers, der Macrons Schuldenpolitik mitgetragen hatte. Er drohte mit Konsequenzen. Le Maire versuchte daraufhin, Retailleau auf seinem Mobiltelefon zu erreichen. Doch dieser antwortete nicht.
Daraufhin rief Le Maire in der Telefonzentrale des Innenministeriums an, stellte sich vor und verlangte, mit dem Innenminister in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen. Der diensthabende Beamte der Telefonzentrale sagte: „Monsieur, es ist spät am Sonntagabend und keine Zeit für Scherze“, und legte auf. Am nächsten Morgen gab Premierminister Sébastien Lecornu seinen Rücktritt mit den Worten bekannt, dass „die Voraussetzungen für eine Regierung nicht mehr gegeben waren“.
„Wir haben uns verschuldet, um zu schützen“
Le Maire weist die Darstellung von Medien und politischen Gegnern entschieden zurück, Frankreich finanzpolitisch auf die schiefe Bahn geführt zu haben. „Ich bin kein Schuldenkönig“, sagt er in Anspielung auf die jüngste Überschrift in der F.A.Z. Er übernehme seinen Teil der Verantwortung. Aber es gebe in seinem Land ein „kollektives Versagen“ und eine „Heuchelei der gesamten politischen Klasse“, und das schon seit Jahrzehnten. „In Frankreich haben wir kein Schuldgefühl in Bezug auf die Verschuldung, und das ist seit 50 Jahren so“, sagt Le Maire.
Die Verschuldung sei „kontinuierlich explodiert“; 20 zusätzliche Punkte unter Präsident François Mitterrand, 30 unter Nicolas Sarkozy. „Als ich Finanzminister wurde, lag die Verschuldung schon bei fast 100 Prozent unserer Wirtschaftsleistung“, unterstreicht er. Man habe 15 Prozentpunkte zusätzliche Verschuldung verursacht – „in der schwersten Wirtschaftskrise seit 1929 und einer großen Inflationskrise“. „Wir haben uns verschuldet, um zu schützen“, rechtfertigt sich Le Maire.
Probleme habe es erst zum Ende dieser Krisenphase gegeben. „Dieselben Leute, die mir gesagt haben, dass wir zur Normalität zurückkehren müssen, sagten: ‚Oh nein, auf keinen Fall, wir heben die Strompreisbremse nicht auf, wir heben die Gaspreisbremse nicht auf, wir sparen nicht, du solltest Bäcker, Metzger und Handwerker schützen‘“, erzählt Le Maire.
Sowohl die Opposition als auch Teile des Regierungslagers und sogar Präsident Macron hätten sich „kategorisch geweigert“, die Ausgaben zurückzuführen. So sei er, nachdem er tags zuvor eine Einsparung von 100 Millionen Euro durchgesetzt hatte, eines Morgens aufgewacht und habe im Radio gehört, wie Premierministerin Élisabeth Borne eine acht Milliarden Euro teure Anhebung der Beamtenbezüge ankündigte. „Wie soll man so arbeiten?“, fragt er rhetorisch.
Das brachte das Fass zum Überlaufen
Le Maire beteuert, trotzdem schwierige Entscheidungen getroffen und in der ersten Jahreshälfte 2024 rund 30 Milliarden Euro eingespart zu haben, etwa durch die Abschaffung der Strompreissubvention oder bei der Krankenversicherung. Doch das habe nicht gereicht, zumal auch die Steuereinnahmen viel stärker zurückgegangen seien als erwartet.
Dass Macron im Juni 2024 dann auch noch das Parlament auflöste, brachte nach Le Maires Darstellung das Fass zum Überlaufen. Frankreichs Neuverschuldung, die nach der Pandemie erst gesunken und dann, anderes als in anderen großen Eurostaaten wie Italien und Spanien, schon 2023 wieder von 4,7 auf 5,4 Prozent gestiegen war, kletterte 2024 auf 5,8 Prozent der Wirtschaftsleistung.
„Von Juli an kam es zur Beendigung der laufenden Geschäfte, und da geriet alles völlig aus den Fugen“, sagt Le Maire rückblickend. Es habe keine politische Kraft mehr gegeben, die notwendig gewesen wäre, um die öffentlichen Finanzen in Ordnung zu halten, die Ausgaben zu senken und die Schulden abzubauen.
„Alle französischen Präsidenten geben gerne Geld aus“
„Ich hatte diesen Willen, wieder auf drei Prozent Defizit zurückzukommen, die öffentlichen Finanzen wieder in Ordnung zu bringen, aber der Wille eines Einzelnen kann nichts ausrichten“, so Le Maire heute. Doch warum stellte er sein Amt nicht zur Verfügung? Weil ein Rücktritt „eine Desertion“ sei und man nur zurücktrete, wenn es eine „grundlegende Meinungsverschiedenheit“ gebe.
„Wir wollten zusammen mit dem Präsidenten die Sanierung der Finanzen. Es gab keine Meinungsverschiedenheiten über das Ziel, bis 2027 unter drei Prozent zu kommen“, sagt er. Was jedoch die Mittel angeht, hätten er und Macron sich entzweit. „Im April 2024 kam es zu einem Konflikt über den Nachtragshaushalt. Ich sagte ihm, dass für diese Einsparungen ein Gesetz erforderlich sei und ein Dekret nicht ausreicht“, berichtet Le Maire. Doch Macron habe Nein gesagt.
„Alle französischen Präsidenten geben gerne Geld aus, und genau deshalb muss eine kollektive Entscheidung getroffen werden, bei der der Finanzminister ein Vetorecht hat oder die Ausgaben durch eine goldene Regel begrenzt werden oder eine echte Kontrolle durch das Parlament stattfindet“, so Le Maire nun. Die heutige Organisation in Frankreich sei „völlig mangelhaft“.
Mehr als nur Frankreichs Glaubwürdigkeit in Gefahr
Jedes Mitglied der Exekutive könne Ausgaben tätigen, wie es wolle. „Wenn Sie also den Staat nicht neu organisieren, werden Sie die französischen Staatsfinanzen nicht in den Griff bekommen“, resümiert er. Dabei könne man sich von der deutschen Schuldenbremse durchaus inspirieren lassen.
Le Maire sieht mehr als nur Frankreichs Glaubwürdigkeit in Gefahr. „Der Euro ist ein Betäubungsmittel“, sagt er. Das sei kein Problem, bis es zu einem „Finanzunfall“ komme und der Schutz des Euros nur noch zu den Bedingungen der EZB und damit der Zentralbankpräsidenten aus anderen europäischen Ländern gewährt wird.
„Alles, was wir heute nicht freiwillig tun, werden wir morgen aus Zwang tun müssen. Alles, was wir heute in Frankreich tun können, wird uns morgen vom Ausland, von den Märkten und von der Europäischen Zentralbank aufgezwungen werden“, mahnt er.