Im Jahr 2002 war der Wettbewerb an der Spitze der Bundesliga noch so intakt, dass die Fernsehleute häufig den Verdacht äußerten, ein altbekannter britischer Kinoregisseur habe sich das alles ausgedacht. In dieser Liga gehe es so spannend zu, „als ob (Alfred) Hitchcock Regie geführt hätte“, lautete der stereotype Spruch. Der FC Bayern war zwar auch damals der mächtigste Klub im Land, aber er war noch nicht der einsame Herrscher wie heute. Es war keine wundersame Ausnahme, wenn andere Klubs mal die Meisterschaft feierten. So wie 2002: Borussia Dortmund gewann den Titel, Leverkusen wurde Zweiter, die Bayern Dritter, jeweils durch einen einzigen Punkt getrennt. Ein Hitchcock-Finale.
Wenn in jener Zeit hingegen die Nationalmannschaft spielte, war nicht großes Kino die Referenzgröße, sondern das schwermütige Spätwerk der TV-Serie Derrick oder sogar die ZDF-Sendung „Schaukelstuhl“. Der Bayern-Profi Jens Jeremies wurde zwei Monate vor dem Start der Weltmeisterschaft in Japan und Südkorea allen Ernstes gefragt, ob Deutschland nicht besser zu Hause bleiben sollte, um den Ruf nicht zu schädigen. Jeremies wagte daraufhin die Prophezeiung, das zweifelnde Land werde sich noch wundern. Man hat das belächelt und als Trotz abgetan. Aber Jeremies behielt Recht: Das Finale in Yokohama haben die Deutschen zwar verloren, aber sie spielten brasilianischer als der Gegner Brasilien.

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Aktuell verlangt zwar noch niemand, der DFB solle die Reisearrangements für die WM in den USA, Mexiko und Kanada stornieren. Doch von Hoffnung auf den Titel ist nicht mehr viel zu spüren. Stattdessen wird dem Bundestrainer Julian Nagelsmann rückwirkend Verblendung oder Hybris vorgeworfen, weil er nach dem unglücklichen Viertelfinal-Aus bei der EM im Sommer 2024 erklärt hatte, dann wolle er mit seinem Team „halt Weltmeister werden“.
Nagelsmann hat erfahren müssen, dass ihn diese Formulierung in diesem seltsam defätistischen Land angreifbar gemacht hat. Den Bundestrainer zu kritisieren ist legitim, er liefert dafür auch immer wieder Gelegenheiten. Aber der Wunsch, die WM gewinnen zu wollen, ist nicht zu beanstanden. Er ist selbstverständlich. Nicht nur, weil ein deutscher Nationalcoach aus Tradition zu höchsten Zielen verpflichtet ist – anders als etwa dessen Kollegen aus Usbekistan und Haiti. Sondern, weil Nagelsmann aus herausragenden Spielern wählen kann. Florian Wirtz und Nick Woltemade etwa, die gerade in der Premier League, der besten Liga der Welt, die beste Lehre erhalten und zusehends ihr Repertoire erweitern. Oder die von Joshua Kimmich angeführte Abordnung aus München: Ein tragendes Element der Nationalelf, das durch den immer noch nicht volljährigen Lennart Karl vielversprechend ergänzt werden kann.
Einen so starken FC Bayern, der außer einer eingespielten Gruppe von Profis auch ein mögliches taktisches Konzept liefert, hatte der Teamchef Rudi Völler 2002 nicht. Er musste improvisieren, um überhaupt genügend Leute zu finden – Nagelsmann könnte einen A- und einen B-Kader für die WM bilden. Sicher: In Frankreich gibt es vielleicht noch mehr Talente, die noch aufregender sind. Englands Team hat jetzt möglicherweise das Niveau eines Champions erreicht. Und der Europameister Spanien spielt wie automatisiert den wahrscheinlich besten Kombinationsfußball im Universum.
Aber der Universalgelehrte Lothar Matthäus hat recht, wenn er sagt: „Man darf sich nicht kleiner machen, als man ist. Deutschland ist nicht klein.“ Mit der für ein Turnier nötigen Eigendynamik kann Deutschland im nächsten Sommer sogar plötzlich riesengroß werden.
