
Es gibt gleich zwei gute Gründe, traurig zu sein, dass Daniel Josefsohn, dieser deutsche Fotograf mit jüdischer Seele, tot ist. Der eine ist offensichtlich: Er ist viel zu früh an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben – 2016, vor fast zehn Jahren. Da war er gerade einmal 54 Jahre alt.
Den anderen führt uns zurzeit die Ausstellung „Unseen“ in der Berliner Galerie Crone vor Augen: Josefsohns kompromisslose Gegenwartsfotografie erinnert daran, wie rebellisch, wie melancholisch, wie lebensecht Pop-Publizistik in Deutschland früher sein konnte.
Klar, eigentlich ist über Josefsohn – den stilprägenden Magazinfotografen, den 1990er-Jahre-Chronisten, den hedonistischen „Berserker“, wie ihn viele im deutschen Feuilleton nannten – schon alles geschrieben worden. Genauso über seine Werbe-Mode-Kunstfotografie.
Trashig wie die von Martin Parr soll sie sein und verletzlich wie die von Nan Goldin. Natürlich wurde Josefsohn, der Fotograf mit Skater-Karriere, auch mit seinen Zeitgenossen Wolfgang Tillmans und Jürgen Teller verglichen.
„Daniel Josefsohn | Unseen“. Galerie Crone, Berlin. Bis 29. November. Werkstattgespräch mit Kurator Ingo Taubhorn: 28. November, 18 Uhr
Ein perfekt unperfekter Zeitcontainer
Kurzum: Josefsohns seit 1989 entstandenes, megalomanisches Gesamtwerk ist der perfekt unperfekte Zeitcontainer für die Mauerfall-Rave-Dekade – und für alles, was davon nach 9/11 übrigblieb. Mit seinen Haudrauf-Kampagnen, wie der für MTV 1994, und seinen Coverfotos für Magazine wie Tempo, Jetzt, Neon oder das Zeitmagazin hat er Medienikonen geschaffen.
Foto:
Daniel Josefsohn Estate/Galerie Crone/VG Bildkunst
Bilder, die mir, uns, denen, die die 1990er Jahre im Kinderwagen verschlafen haben und erst zum Jahrtausendwechsel in einer unterfinanzierten Journalismus-Branche aufgewacht sind, ein unfair nostalgisches Gefühl geben: Früher war das Gras wirklich grüner.
Diese Nachgeborenen-Nostalgie kann aber keine Antwort auf die Frage sein, was Daniel Josefsohn heute relevant macht. Was Josefsohn relevant für die Gegenwart macht – und die gegenwärtige Kulturstarre lockern könnte –, findet sich in der Ausstellung bei Crone.
Da hängen eben nicht die epochal-fetten Ikonen an den Wänden, sondern bislang ungedruckte, ungesehene, kleinformatig-tagebuchartige Momentaufnahmen, dicht an dicht, wie auf einem angestaubten Analog-Film. Was der zeigt? Josefsohns nonkonformistische Haltung.
Die beweist er zum Beispiel, wenn er vor die eigene Kamera tritt. Meistens ist er dabei so nackt und erigiert wie die jungen, exzessiven Körper seiner Modelle. In Josefsohns Wildheit regiert aber Empathie: Als Mann mit Kamera verhält er sich egalitär.
Das heißt, dass er seine Modelle, gerade Frauen, trotz der sexuellen Aufladung, nicht zu Fetischobjekten degradiert. Er scheint vielmehr genauso verkommen, verliebt und verballert zu sein wie sie. Er ist dieser eine Freund, der im gemeinsamen Rausch den peinlich schönen Snapshot macht.
Und der sieht dann so aus: Ein junger Mann, der mit gespreizten Beinen auf einem abgewetzten Mid-Century-Schreibtisch sitzt und masturbiert. Verschwitzte, erschöpfte Gesichter, die zwischen aufgewühlten Laken hervorschauen. Das ineinander verschlungene Liebespaar, das mit vom Rave verschmutzten Lederstiefeln im Bett liegt und auf einem Fernseher Fesselpornos schaut.
Alles verletzliche Szenen, in die die Kehrseite des Exzesses – das up and down und die Vergänglichkeit – schon unabwendbar eingeschrieben sind. Josefsohn schmiegt sich an diese Momente, als ob er sie vor dem Verschwinden retten will.
Das ist seine Qualität als Dokumentarist: Er zeigt das Leben, wie es ist, und setzt sich selbst dazu in Beziehung. In seiner Arbeit steckt ein enormes Bedürfnis nach Verbindungen, nach einem neuen, freien, aber unideologischen Typ von Gemeinschaft.
In Brasilien stellt er sich in einem Bananenkostüm zwischen zwei schüchtern lächelnde Polizisten und fotografiert sich in ihrer Mitte.
Gleichzeitig verteidigt Josefsohn seine Individualität als Künstler und Punk-Dandy. Oft greift er deshalb performativ in seine Fotografien ein. So stellt er sich beispielsweise in Brasilien in einem Bananenkostüm zwischen zwei schüchtern lächelnde Polizisten und fotografiert sich in ihrer Mitte.
Witzige Interventionen, wie diese, machen ihn zum Situationisten. Spielerisch untergräbt er Autorität und lässt protzige Machtsymbole auf Augenhöhe schrumpfen. Eine Subversionstaktik, die nie in Erniedrigung des Gegners umschlägt. Warum nicht? Weil das nicht zu Josefsohns Haltung passt.
„Ehrlich und cool“ müsse die Kunst sein, wie er selbst in einem Interview mit dem Kunst-Magazin Monopol mal sagte. Da saß er schon im Rollstuhl und dokumentierte seinen eigenen Verfall in lakonisch schönen, lebenshungrigen Bildern.
Josefsohns Haltung zum Leben war schonungslos – und dafür gab es viele Gründe. Einer davon war sicherlich, dass er Jude war, in Deutschland, im Land der Mörder seiner Familie. Geboren wurde er 1961 in Hamburg, in eine Welt, in der er sich früh mit Biss und ausgestreckter Zunge behaupten musste.
Die Protagonisten dieser Welt waren erfahrungsharte Shoah-Überlebende, die zwischen Hafen und Bordell, zwischen Aufbruch und Unterwelt, ihren Platz in der nachkriegsdeutschen Verdrängungsgesellschaft gefunden hatten. Josefsohn konnte da nur werden, was er später dann auch war: erfolgloser Bankräuber, aufmüpfiger Profi-Skater und dieser bildersüchtige Künstler ohne Illusionen.
Heute sind Künstler und Medienleute wie er eine Rarität. Seine unprätentiöse Versessenheit, sein Nonkonformismus, die selbst behauptete Autonomie – das alles gibt es gegenwärtig fast nur noch in Form stumpfer Kopien, die widerspruchslos ökonomischem Nutzen dienen sollen.
Karin Müller, Josefsohns langjährige Partnerin
Intimste fotografische Alltagsdokumentationen, wie die von Josefsohn, fluten soziale Medien, sind aber nicht nur stilistisch total normiert – Plattformregulierungen und KI-Anwendungen formatieren Inhalte nach Marketingkalkül oder zunehmend nach restriktiven Politikstandards. Und die Redaktionen klassischer Medien machen es ihnen immer öfter nach: für Klicks und aus Angst, den eigenen Anschluss zu verlieren. Influencer, wir alle, eine ganze Medienökonomie reproduziert sich selbst mit diesen Bildern.
Also doch zurück in die gute alte Zeit? Fragt man wichtige Wegbegleiter von Josefsohn, was an ihm heute besonders fehle, sind sie sich erst mal einig: „Daniel war im besten Sinne verrückt“, wie Timm Klotzek, der Chefredakteur des SZ-Magazin, sagt. Oder Karin Müller, Josefsohns langjährige Partnerin: „Bei Daniel haben sich Menschen eingefunden, die frei im Kopf waren, also mutig, lustig, besessen, verliebt, sexy, traurig oder anstrengend.“
Warum das heute nicht mehr geht? „Wegen der Schere im Kopf“, sagt Markus Peichl, „alle haben Angst vor Überforderung“. Peichl ist nicht nur Inhaber der Galerie Crone, in den 1980ern gründete er das legendäre Zeitgeistmagazin Tempo und verhalf damit dem Pop-Journalismus in Deutschland – genauso wie Josefsohns Karriere – zu seiner intensivsten Blütezeit.
Fernab der kleinbürgerlichen Pimmel-Moral
Nostalgie hielte Peichl trotzdem für falsch: „Wir haben damals eine Freiheit geschaffen, ja, aber die galt dann zu lange als selbstverständlich. Jetzt führt genau das zu einem Backlash.“ Und es stimmt: Die Provokation der Öffentlichkeit, mit der poppige Medien einst triumphierten, ist zum Strategiespiel rechtspopulistischer Maulhelden geworden.
Ein Beispiel: Julian Reichelt mit seiner ekeljournalistischen Plattform Nius. Angetrieben werden die aber nicht vom Wunsch nach radikaler Autonomie wie Josefsohn oder früher Tempo, sondern von ihrer kleinbürgerlichen Pimmel-Moral. Aber die bedeutet letztlich Unfreiheit für alle.
Und um der etwas entgegenzusetzen, so könnte man die frohe Botschaft von Josefsohns Vergangenheitsschau bei Crone deuten, müssen die Richtigen weiterhin überfordern. Mit Nonkonformismus. Dann werden Kunst und Pop-Journalismus auch wieder ehrlich und cool.