Es ist ein interessantes Phänomen, dass in Zeiten, in denen so viele Menschen Geräusche des Alltags mit Kopfhörern unterdrücken, ausgerechnet der hörbare Verzehr von Speisen einer der großen Foodtrends des Jahres ist. Der Crunch ist längst ein wesentlicher Genussfaktor geworden in den Küchen dieser Welt, manchen ist er sogar wichtiger als Geschmack und Aussehen eines Gerichts.
Natürlich beißt immer irgendwer auf Tiktok, Instagram oder Youtube mit Minimikro an der Kauleiste in eine sündhaft teure Fake-Frucht des Pariser Starpatissiers Cédric Grolet oder in Riesengurken und lässt sich feiern, wenn es dabei knackt und knuspert. Aber ein reines Internetphänomen ist der Crunch sicher nicht. Bereits der französische Meisterkoch Auguste Escoffier empfahl Anfang des 20. Jahrhunderts, dass Speisen sensorisch Abwechslung bieten sollten. Nicht nur Aussehen und Geschmack seien wichtig, sondern auch die Konsistenz.
Aber erst mit der Molekularküche wurde die Textur zum Star in der Küche mit Espumas, Gelees und Kügelchen, die im Mund platzen. Mit dem Wechselspiel der Texturen, von zart bis hart, löste sie den lautlosen Verzehr ab. Am Gaumen ist seither Rummel, das „Mundgefühl“ ist Stammgast im Vokabular von Restaurantkritikern, „Crunch“ sowieso. Kann man doof finden – oder „spannend“, um im aktuellen Wortfeld der Gastrokritik zu bleiben. Nichts ist schlimmer als ein Gericht, das in Gänze durchflutscht und im Mund überhaupt keinen Widerstand leistet.
Wer Knuspergeräusche beim Kauen hört, isst weniger. Her mit der Chips-Diät!
In Kopenhagen freut sich Karim Khouani in seinem Restaurant „Texture“ über eine lange Warteliste. Er wirbt mit „seidigen, samtigen und knusprigen Texturen“ als zentrales Element seiner Küche, einen Michelin-Stern bekam er postwendend, dabei gibt es das französische Restaurant erst seit einem Jahr. Auch in den sonstigen Küchen knuspert es. Im Gasthaus im Viertel gibt es nun Pinsa mit Kartoffelchips obendrauf, in Kantinen kommt keine Salatbar mehr ohne knusprige Toppings wie karamellisierte Kürbiskerne aus, in Privatküchen werden Mienudeln fürs Dressing zerbröselt. Zum Dessert vielleicht ein Espresso Crème Brûlée Martini? Snack dazu? Da gäbe es frittierte Bohnen und Pilzchips.
Es geht hier nicht um lautes Schmatzen und Kauen, sondern um elegantes Knirschen. Mit Mukbang, dem schon älteren südkoreanischen Internettrend, bei dem Menschen geräuschvoll riesige Mengen Essen in sich hineinstopfen und sich dabei filmen, hat der Trend nur seine Wurzeln gemein: dass auch die akustische Seite von Essen einen Wert hat, der sogar der dramaturgische Höhepunkt sein kann.
Auf Social Media potenziert sich der Küchentrend und man sieht Influencer, die eine Kunstpause einlegen, bevor sie in ein Törtchen beißen, wie sie um Stille bitten und sagen: „Achtung, jetzt kommt der Crunch!“ Unangenehm laut sollte der keinesfalls sein, Crunch ist eher als Beiboot des großen ASMR-Trends zu sehen, in den Menschen in Videos und Podcasts in hochempfindliche Mikros hauchen, mit Kunstnägeln darauf herumkratzen – oder ein Törtchen knuspern. Angeblich soll das sehr entspannend wirken.
Wer sich für die Zeit nach Weihnachten vorgenommen hat, den Essensplan strenger zu führen, darf sich auch der Knusperküche zuwenden. Forscher der Brigham Young University im US-Bundesstaat Utah haben vor einer Weile den „Crunch-Effekt“ entdeckt. Der bewirkt, dass Menschen, die knusprige, geräuschvolle Lebensmittel konsumieren, unbewusst weniger essen. Angeblich verstärkt die Konzentration auf die Kaugeräusche das Bewusstsein für den Essensvorgang. Wer nichts hört, isst mehr. Her mit der Chipsdiät!
