
Es klirrt, es rummst, es scheppert. Hanteln sausen in die Luft und landen krachend wieder auf dem Boden, der gemartert ist von unzähligen dieser eisernen Einschläge. Manche Athleten stöhnen und ächzen buchstäblich unter der Last. Alexandra Lubinetska sieht und hört man die Anstrengung nicht an, kein Stöhnen, kein Ächzen, kein verzerrtes Gesicht – manchmal huscht sogar ein Lächeln über ihr Gesicht. Wenn ihre Hände auf der Stange hin- und her rutschen, ehe sie abrupt Halt finden.
Und sogar während sie ihren zierlichen Körper unter die Hantel bringt. Sie ist eine 34 Jahre alte Frau, die schier permanent über sich hinauszuwachsen scheint. In ihrem Sport, in dem sie als spätberufene Anfängerin im Nu die Qualifikation für die Europameisterschaften schaffte. Und in ihrem Leben darüber hinaus. Besonders in den vergangenen drei Jahren nach Kriegsbeginn in ihrer Heimat. Zwei Jahre davon lebt die Ukrainerin nun mit ihren drei Söhnen hierzulande, nach einer kurzen Episode in Neu-Isenburg nunmehr in Langen.
Es war ein lebensverändernder, ja Schicksal spielender Tag, als Lubinetska kurz nach Ankunft mit ihren Jungs durch die Stadt spazierte. Eine Stadt, von der sie zuvor noch nie gehört hatten. In einem Land, dem sie dankbar waren für die Aufnahme in der Not, dessen Sprache sie nicht sprachen und an dessen Kultur sie sich erst langsam herantasteten. Und in dem sie niemanden kannten, nachdem Lubinetskas Schwester samt Sohn sich früh dafür entschied, in die Ukraine zurückzukehren. Der 85 Jahre alten Großmutter zuliebe, die nicht mehr mobil ist und um die die Familie stets in Sorge ist.
Der Anschluss im fremden Land
Alexandra Lubinetska und ihre drei Söhne kamen auch die Zimmerstraße entlang, das Wandbild auf der Fassade der Hausnummer eins erregte ihre Aufmerksamkeit: ein überdimensionierter Gewichtheber mit Hantel, schwarzes Haar, roter Anzug, darunter die drei Buchstaben „KSV“. Kurzerhand klingelte Lubinetska beim Kraftsportverein Langen. Ein Glück, dass Stefan Georgiev die Tür öffnete.
Via Übersetzungs-App auf ihrem Handy teilte sie mit, dass sie auf der Suche nach einer sportlichen Betätigung für ihre Jungs sei. Bald stellten der Bulgare, der vier Sprachen spricht und die Ukrainerin, die in ihrer Kindheit eine Zeit lang in Moldawien lebte, fest, dass sie sich auf Russisch unterhalten können. Georgiev lud die Familie für den nächsten Tag zum Probetraining ein. Was dann passierte, darüber sagt der Gewichtheben-Coach nur: „eine unglaubliche Familie.“

Georgiev, selbst ein erfolgreicher Heber in den Masters-Altersklassen, erkannte sofort das Talent der beiden älteren Söhne Nikita und Kostiantyn. Wie schnell sie die komplexe Technik erlernten, wie viel Leidenschaft sie zeigten und Biss entwickelten, begeisterte den Trainer. Ein halbes Jahr nachdem Nikita erstmals die Schwelle zur Langener Trainingshalle überschritten hatte, wurde er 2023 deutscher Juniorenmeister in seiner Gewichtsklasse – 79 Kilogramm im Reißen, 91 im Stoßen. Im vorigen Oktober dann setzte der nunmehr 17-Jährige noch einen drauf: deutscher Meister bei den Jugendlichen, Junioren und Aktiven zugleich – mit beeindruckenden 92 Kilogramm im Reißen und 112 im Stoßen. Und sein 14 Jahre alter Bruder Kostiantyn, so Georgiev, sei vielleicht noch etwas begabter. Auch der achtjährige Illia macht im Training manchmal spielerisch mit.
Der KSV Langen, der der Familie das Training kostenfrei ermöglichte, wurde der zentrale Anlaufpunkt der alleinerziehenden Lubinetska und ihrer ältesten Söhne. Der erhoffte Anschluss im fremden Land war gefunden. Ein Positivgeschichte für gelungene Integration nahm ihren Lauf. Je häufiger sie im großflächigen Gym des Vereins war, desto mehr Faszination empfand auch Lubinetska für Gewichtheben. Auch sie legte unter Georgievs Anleitung los.
Späte sportliche Liebe
Und wie! Die Hingabe und Tatkraft, mit der sie schon durch ihr altes (sportliches) Leben in der Ukraine ging, vermochte sie auch in den Kraftsport zu investieren. Es fasziniere sie, wie das Training aufgebaut ist, wie es anschlägt, wie sie vorankommt. „Ich habe mich zunächst natürlich sehr für meine Söhne gefreut, dass sie in Deutschland einen Sport gefunden haben. Und dann war ich selbst davon so begeistert und inspiriert“, erzählt Lubinetska, die im Verein nur mit ihrem Spitznamen Sascha gerufen wird. Mittlerweile spricht sie hervorragend Deutsch.

„Gewichtheben ist meine späte sportliche Liebe geworden. Ich kann es einfach nicht mehr lassen.“ So wie ihr das Erlernen der Technik leicht fiel, steigerte das Leichtgewicht seine Leistung verblüffend schnell. Bei den Hessenmeisterschaften im vorigen Herbst siegte Lubinetska in der Gewichtsklasse bis 49 Kilogramm mit in Summe 95 Kilogramm im Reißen und Stoßen. Was ihr quasi aus dem Stand die Qualifikation für die EM in Albanien einbrachte. Bei den Weightlifting German Open Anfang Februar in Potsdam schaffte sie noch fünf Kilogramm mehr – neue Bestleistung. Das nächste Ziel ist nun tatsächlich: Europameisterin werden in ihrer Altersklasse am 8. Mai in Tirana – genau eine Woche vor ihrem 35. Geburtstag.
Gerne wäre sie dort für Deutschland gestartet, für das Land, das ihr diese Chance ermöglicht hat. Doch das Reglement lässt dies (noch) nicht zu. Für Lubinetska ist klar, dass sie in Rhein-Main bleiben möchte. „In der Ukraine habe ich an eine gute Zukunft für die Kinder und uns als Familie geglaubt. Aber der Krieg hat alles verändert. Und die Kinder wachsen jetzt auf. Ich möchte nicht mit ihnen fast jeden Tag in irgendeinem Keller sitzen, sondern ich möchte, dass sie in Sicherheit sind.“
Lubinetska langt in den kleinen Bottich mit Magnesia. Mit geweißten Händen nimmt sie an diesem Winterabend die nächste Serie in Angriff. Etwa alle zwei Minuten bringt sie eine Hantel zur Strecke, zwischendurch wechselt sie die farbigen Gewichtsscheiben – es wird immer schwerer.
Erst die Technik, dann die Kraft
Als unerträglich schwer empfand sie das Leben in Odessa nach Kriegsbeginn. Knapp ein Jahr hielt sie es aus inmitten der russischen Angriffe von See, Land und aus der Luft. Dann ließ sie ihr altes Leben und das der Kinder zurück. Als sportliches Multitalent hatte Lubinetska einst eine Artistenschule besucht. Sie zeigt Handyvideos, wo sie auf Bühnen zu sehen ist. Im Spagat, im Handstand und dabei schier verwrungen mit einer Partnerin. Doch ein, zwei Verletzungen und die Schwangerschaften (Nikita bekam sie mit 17) führten sie an Grenzen. Sie verdingte sich als Immobilienmaklerin und half, eine Schule für talentierte Kinder und Jugendliche aufzubauen. Tanzen, Malen, Singen, Schauspiel und Nähen waren die Fächer. Mit Krafttraining und Turnelementen hielt sie sich fit. Doch die Schule musste nach dem russischen Angriff schließen – viel zu riskant, viele Kinder und Jugendliche in einem Gebäude zusammenzubringen.

Das Gym des KSV Langen ist ein Ort mit herbem und doch einladendem Charme. In einem abgetrennten Raum trainieren die Kraftdreikämpfer. Schiere Berge von Eisen werden dort bewegt, bei Kniebeugen, Bankdrücken und Kreuzheben wird dort die rohe Kraft betont. Alexandra Lubinetska wirkt in dieser Szenerie wie eine zu dünn geratene Zwergin. Die aber mal eben und immer wieder ihr Körpergewicht mit ausgestreckten Armen in die Luft stößt. „Gewichtheben ist zuvorderst Technik und dann Kraft. Mit einer guten Technik fliegt die Hantel von alleine“, sagt Lubinetska.
Nicht selten schaut sie beim Training hinüber zu Nikita, der weiter links auf einem Feld trainiert. Bei dem 17-Jährigen künden sich Versuche mit einem zackigen Schrei an. Vor oder nach den abendlichen Einheiten beim KSV mischt Lubinetska gerne ihre einstige mit ihrer neuen Sportwelt, das statische Gewichtheben mit der dynamischen Akrobatik. Spagat fällt ihr nach wie vor nicht schwer, Radschlag und Co. ein Klacks. Sie zeigt ein Handyvideo, wie sie sich rückwärts in die Brücke begibt und Nikita sich auf ihre Hüfte gestützt in Zeitlupe in den Handstand schraubt.
Die Härten ihres neuen Sports kennt Lubinetska freilich auch. Um in ihrer Gewichtsklasse bis 49 Kilogramm (die unterste) zu kommen, muss sie vor den Wettkämpfen strenge Diät halten. Etwas, das neben der alleinerziehenden Betreuung der Kinder, den Deutsch-Kursen und ihrem eigenem Trainingsplan nicht ihre immer freundliche und zugewandte Art zu verändern mag. Zwei bis vier Mal pro Woche gibt die Powerfrau als Mini-Jobberin beim KSV Langen noch Kurse in Pilates und Gymnastik. Schon jetzt arbeitet sie an der Trainerlizenz im Gewichtheben, um eines Tages als ersten Schritt die Athletinnen im Verein zu coachen.
Tipps auf TikTok für Geflüchtete
Trainer Stefan Georgiev reicht meist ein Blick oder ein Wink, um den Bewegungsablauf seiner Schüler an der Hantel zu korrigieren. Sein Feedback ist kurz und robust, wenn er durch die Reihen der Hebenden geht und technische Fehler entdeckt. Bei gelungenen Versuchen geht er nicht selten zu den Athleten und schüttelt ihnen anerkennend die Hand – um dann noch etwas mehr Gewicht aufzulegen. Unter der Führung des Bulgaren befindet sich die Gewichtheben-Abteilung – immerhin deutscher Mannschaftsmeister 1985 – nach vielen dürren Jahren im Aufschwung. Knapp 30 Athleten und Athletinnen sind dort aktuell im Training. Reichlich Medaillen von Hessen- und Deutschen Meisterschaften gab es zuletzt, der Aufstieg von der Hessen- in die Zweite Bundesliga ist angestrebt. Mit Alexandra Lubinetska im Team, welche die Wendungen in ihrem Leben zum Guten fleißig online teilt.
Auf Tiktok hat sie stolze 128.500 Follower. Die werden aber nicht nur Zeuge ihrer Fortschritte unter der Hantel. Sie wendet sich konkret an andere Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland, gibt Tipps für die Kommunikation mit Behörden und konkrete Hilfen zum Deutschlernen. „Ich kann so vielen Leuten helfen. Mit Tipps, sich hier zurechtzufinden – ich weiß ja, wie es ist und sich anfühlt bei null anzufangen“, sagt Lubinetska. „Aber auch um zu zeigen, was man mit Mut und Glauben schaffen kann und wie gut man sich in Deutschland weiterentwickeln kann. Um gedanklich nicht immer im Stress und im Negativen des Krieges zu bleiben.“
Am Ende der Trainingseinheit schultert sie eine 65 Kilogramm schwere Hantelstange. Kniebeugen – so viele wie es geht. Und es gehen eine Menge, bis sie die Stange absetzt und tatsächlich kurz angestrengt dreinschaut. Bei der EM in Tirana um Gold zu kämpfen, motiviert sie durch und durch. Da gibt es nur ein Problem: Sie kann sich die Reise nach Albanien samt Anmeldung, Flug und Unterkunft finanziell nicht leisten. Am Tresen, direkt neben dem Eingang des Langener Gyms steht ein Sparschwein. Auch auf seiner Website ruft der Verein zu Spenden auf. Viele Mitglieder haben sich schon mit kleinen Beträgen beteiligt, sind der Bitte der Vereinsführung nachgekommen, „diese außergewöhnliche Erfolgsgeschichte von Integration und sportlichem Talent“ zu unterstützen. „Sascha“, sagt Trainer Georgiev, „ist wahrhaft eine Kämpferin.“
In einem ihrer Tiktok-Videos sitzt ihr kleinster Sohn Illia auf Lubinetskas Schoß. Sie sagt einen Satz auf Ukrainisch, der Kleine übersetzt ihn ins Deutsche: „Eines Tages werden wir zusammensitzen und sagen: Es war schwer, aber wir haben es geschafft.“