Florian Wirtz allein reichte nicht

Neulich hat Uli Hoeneß den Fernseher angeschaltet und ein Fußballspiel angeschaut, das ihn nicht nur an dem Abend, sondern auch am nächsten Mittag noch mit Freude erfüllt hat. Es ging hin, es ging her. Es ging drunter, es ging drüber. Es ging so ab, dass der Sportreporter Jonathan Liew, der das alles im Stadion San Siro in Mailand erlebte, in seinem Spielbericht für den „Guardian“ geschrieben hat, dass es eines der seltenen Spiele gewesen sei, in denen beide Mannschaften Perfektion aufgegeben und diese dadurch erreicht hätten.

Doch für Hoeneß, der am nächsten Mittag mit Freude in der Stimme in sein Handy sprach, war dieses Fußballspiel, das Inter Mailand 4:3 nach Verlängerung gegen den FC Barcelona gewonnen hat, selbstverständlich nur ein fast perfektes – denn seine Mannschaft durfte nicht mitspielen.

Als die Spieler aus Mailand und Barcelona sich im Halbfinale der Champions League das Match der Saison lieferten, durften die Spieler des FC Bayern München nur zuschauen. Und Hoeneß hofft, dass sie ganz genau zugeschaut haben. Weil für ihn mit die größten Momente des Fußballs dann entstehen, wenn zwei Mannschaften in einem All-in-Spiel wirklich auch all-in gehen.

Doch spätestens in der nächsten Saison dürfte sich zeigen, ob nicht nur die Spieler, sondern auch die Trainer und alle anderen Verantwortlichen des Vereins ganz genau zugeschaut haben, weil sich in dem Spiel eine Antwort auf die Frage fand, die mit Blick auf die Zukunft der besten deutschen Fußballmannschaft wichtig ist: Was fehlt dem FC Bayern eigentlich, damit er demnächst wieder Saison für Saison nicht nur im Viertel-, sondern im Halbfinale der Champions League mitspielen darf?

Die kurze Antwort lautet: Florian Wirtz

Auf diese Frage kann man gerade eine kurze und eine nicht so kurze Antwort geben. Die kurze lautet: Florian Wirtz.

In München haben Uli Hoeneß und seine Mitstreiter weiter die Hoffnung, dass Wirtz, der 22 Jahre alte Spielmacher von Bayer Leverkusen, schon in der nächsten Saison das Trikot des FC Bayern trägt. Und sie sind nicht nur hoffnungsvoll, sondern überzeugt, dass er aus einer Viertelfinal- eine Halbfinalmannschaft machen würde. Weil es mit Wirtz zu einem Spillover-Effekt kommen könnte. So wie 2009, als der Verein den Außenstürmer Arjen Robben (rechte Seite) verpflichtete und damit auch dem Außenstürmer Franck Ribéry (linke Seite) das Leben leichter machte.

Die Theorie: Wo Florian Wirtz ist, wird Spielraum sein, der für Jamal Musiala davor noch nicht da war. Und umgekehrt. Doch was, wenn in der Praxis das Problem auftritt, dass Musiala und Wirtz immer wieder in denselben Räumen auftauchen? Andererseits: Weltklasse + Weltklasse = Weltklasse, oder? Wer aber alleine als Ablösesumme mehr als 100 Millionen Euro ausgibt, sollte schon damit rechnen, dass mit „Wusiala“ entstehen würde, was einst mit „Robbery“ entstanden ist: ein neuer FC Bayern.

Derzeit wohl der beste Fußballspieler Deutschlands: Florian Wirtz
Derzeit wohl der beste Fußballspieler Deutschlands: Florian WirtzAFP

Diese Aussicht ist der Antrieb für Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge, die Aufsichtsratsmitglieder der FC Bayern München AG, die schon seit Wochen in der Öffentlichkeit um Wirtz werben. Und während Hoeneß einen Wirtz-Wechsel in mehreren Interviews als seinen Traum dargestellt hat, ist Rummenigge im März in einem Interview mit der „Abendzeitung“ weiter gegangen: „Florian Wirtz ist für mich der beste Spieler Deutschlands. Und ich mache auch keinen Hehl daraus, dass es ganz klar unser Ziel sein muss, Wirtz zu verpflichten. Uli hat gesagt, dass Wirtz sein Traum ist – und das war ja noch höflich ausgedrückt. Alle beim FC Bayern sind sich einig, dass er genau der Spieler ist, den wir holen wollen. Nicht um Leverkusen zu schwächen, sondern um uns zu verstärken.“

Doch wenn Rummenigge denkt, dass der FC Bayern mit dem momentan besten Fußballspieler Deutschlands nicht ausgeschieden wäre, sollte er sich nochmal das Spiel des FC Barcelona anschauen, weil der selbst mit dem momentan besten Fußballspieler der Welt, Lamine Yamal, ausgeschieden ist.

Derzeit der wohl beste Fußballspieler der Welt: Lamine Yamal
Derzeit der wohl beste Fußballspieler der Welt: Lamine YamalEPA

Es gibt einen Satz, den man in dieser Saison sowohl über den FC Barcelona als auch über den FC Bayern sagen kann – und der zur nicht so kurzen Antwort auf die Frage nach dem, was in München fehlt, führt: Wer einen großen Hammer hat, sieht überall Nägel. So spielt Barcelona, so spielen die Bayern. Sobald der Gegner den Ball hat, stürzen sie sich auf ihn. Sie hauen drauf und drauf und drauf. Und wenn der Nagel schon im Holz ist, hört und sieht man sie nochmal hämmern.

Das ist der Einsatz, den die Trainer Hansi Flick und Vincent Kompany in der ersten Saison mit ihren neuen Teams eingefordert haben. Man muss einerseits anerkennen, dass Kompany mit den Bayern so die Meisterschaft gewonnen hat und dass auch Flick mit Barcelona so die Meisterschaft gewann. Doch man muss es dann anderseits auch nicht für einen Zufall halten, dass beide mit diesem Hau-Drauf-Fußball in der Champions League gegen dieselbe Mannschaft ausgeschieden sind.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



In Italien hat der Trainer Simone Inzaghi die Mannschaft von Inter Mailand seit vier Saisons so klug weiterentwickelt, dass sie das Spiel mit dem Ball, aber auch ohne den Ball kontrollieren kann. Das ist das, was sie vom Flick-Barcelona und von den Kompany-Bayern unterscheidet: Sie kann hämmern, aber sie weiß, wann sie mit dem Hämmern auch mal aufhören muss.

Im direkten Duell hat man gesehen, dass gerade die Bayern das noch nicht wissen. Im Hinspiel gegen Inter Mailand haben sie in der 85. Minute das 1:1 geschossen und sich in der 88. Minute sofort das 1:2 eingefangen. Und im Rückspiel haben sie in der 52. Minute das 1:0 geschossen und dann in der 58. und 61. Minute sofort das 1:1 und 1:2 einstecken müssen. So haben die Bayern das Viertelfinale verloren, das sie auch ohne vier verletzte Stammspieler (Neuer, Upamecano, Davies, Musiala) nicht hätten verlieren müssen.

„Die Energie“

Als der Mittelfeldspieler Joshua Kimmich damals im Stadion in Mailand das Aus analysierte, sagte er daher, was er in dieser ersten Saison unter Kompanys Kommando immer wieder gesagt hat: „Wenn man sieht, wo wir herkommen, bin ich überzeugt, dass wir auf einem guten Weg sind.“ Doch dieser Weg wird wohl nur dann ans Ziel führen, wenn der Trainer und sein Team den Punkt erreichen, an dem sie auch in einem All-in-Spiel nicht immer all-in gehen.

Es ist keine kleine Leistung, dass die Mannschaft in mittlerweile zehn Monaten unter Vincent Kompany so weit gekommen ist. Der erste Schritt bestand darin, dass sie die schwächeren Gegner wieder dominiert. Das schafft sie. In der Bundesliga hat sie neun Spiele nicht gewonnen – nur zwei davon gegen Teams, die nicht unter den Top-Sieben der Tabelle sind. Einmal gegen Bochum (2:3) und einmal gegen Union Berlin (1:1). Der nächste Schritt wird darin bestehen, dass sie auch die stärkeren Gegner dominiert. In der Champions League hat sie nämlich nur acht von vierzehn Spielen gewonnen. Und viele von denen, die sie besiegt hat, hätten es in der Bundesliga vermutlich nicht unter die ersten sieben geschafft.

Als Xabi Alonso, der spanische Meistertrainer aus Leverkusen, im September nach seinem ersten Saisonspiel gegen den FC Bayern gefragt worden ist, was der größte Unterschied zwischen der neuen und der alten Bayernmannschaft sei, hat er geantwortet: „Die Energie.“ Das ist Vincent Kompanys Verdienst. Doch fast acht Monate später könnte für ihn und seine Mannschaft die wertvolle Lektion der ersten Saison gewesen sein, dass man in den großen Spielen nicht immer nur der Hammer sein muss, sondern auch mal der Nagel sein darf.