Flamanville 3: Frankreichs Atomkraftwerk der Superlative

Nach vielen Verzögerungen und Kostensteigerungen soll der neue Kernreaktor im nordfranzösischen Flamanville von diesem Freitag an Strom ins Netz einspeisen. Der staatliche Betreiberkonzern EDF hätte damit zumindest diesmal sein Versprechen gehalten, die Anlage zum Herbstende in Betrieb zu nehmen; kalendarischer Winteranfang ist am Samstag. Die Produktion will man nun Schritt für Schritt bis zum Sommer hochfahren, ehe „überwiegend im Jahr 2026“ eine Abschaltung zum Tausch der Brennelemente geplant ist. Bei der Gelegenheit will EDF auch den Reaktordeckel austauschen.

Flamanville 3 ergänzt ein in den Achtzigerjahren in Betrieb genommenes Reaktorpaar am nordwestlichen Zipfel der normannischen Küste und soll künftig bis zu drei Millionen Haushalte mit Strom versorgen. Es ist mit einer Nettoleistung von 1,6 Gigawatt (GW) der größte Reaktor, der in Frankreich je errichtet wurde. Auch global ist das ein Spitzenwert, gleichauf mit den unter französischer Beteiligung errichteten Anlagen im chinesischen Taishan und im finnischen Olkiluoto. Die Nettoleistung von Frankreichs Kernkraftwerkspark erhöht sich durch Flamanville 3 auf 63 GW. Zum Vergleich: In Deutschland waren selbst zu Hochzeiten weniger als 25 GW am Netz.

Inklusive Finanzierungskosten 19,1 Milliarden Euro

Mehr als 400.000 Kubikmeter Beton wurden für Flamanville 3 verbaut. Als Druckwasserreaktor der dritten Generation (European Pressu­rized Reactor, EPR) soll er über die geplanten 60 Betriebsjahre nicht nur leistungsstärker, sondern auch sicherer und zuverlässiger sein als die bisherigen Reaktoren. An der Entwicklung waren Deutsche und Franzosen in den Neunzigerjahren gemeinsam beteiligt: Erstere über die Kraftwerkssparte von Siemens, Letztere über das Unternehmen Framatome, das in Areva und später in EDF aufgegangen ist. Als Weiterentwicklung bestehender Druckwasserreaktoren setzten beide Seiten einst große Hoffnungen in das EPR-Konzept.

Doch statt Europas Nuklearindustrie neuen Schwung zu verleihen, wurde Flamanville 3 zum Inbegriff der Schwierigkeit, neue Reaktoren auch nur ansatzweise im Zeit- und Kostenrahmen zu bauen. Die beim Baustart 2007 erwartete Inbetriebnahme binnen viereinhalb Jahren wurde meilenweit verfehlt. Immer wieder kam es wegen neuer Sicherheitsanforderungen oder Baumängel zu Verzögerungen; mal betraf es Schweißnähte, mal den Reaktordeckel. Damit stiegen auch die Baukosten. Statt der veranschlagten 3,3 Milliarden Euro ging man zuletzt von 13,2 Milliarden Euro aus.

Inklusive Finanzierungskosten seien es 19,1 Milliarden Euro, schrieb der französische Rechnungshof im Juli 2020. Zugleich warf er in seiner Analyse Zweifel auf, inwieweit EDF mit dem neuen Reaktor je Geld verdienen wird. Die Prüfer schätzten die Produktionskosten auf 110 bis 120 Euro je Megawattstunde. Das ist mehr als doppelt so viel wie die beim Baustart erwarteten 46 Euro. Die Produktionskosten der bestehenden Reaktoren, die Frankreichs Energieregulierungsbehörde mittelfristig auf rund 61 Euro schätzt, liegen genauso wie die von Wind- und Solaranlagen viel niedriger.

Die erhoffte Auftragswelle blieb aus

Die Liste an Erklärungen, wie das Projekt so aus dem Ruder laufen konnte, ist lang. „Das Problem bei Flamanville 3 war, dass mit dem Bau begonnen wurde, bevor die Arbeiten am Reaktordesign abgeschlossen waren“, sagte Frankreichs Energieministerin Agnès Pannier-Runacher einmal. Auch habe es an einer industriellen Wertschöpfungskette gemangelt, weil nur ein einziger Reaktor gebaut wurde. Erschwerend hinzu kamen aus Sicht vieler Beobachter eine anfangs schlechte Projektsteuerung und der Kompetenzverlust, den Frankreichs Nuklearindustrie nach Inbetriebnahme des bis dato letzten Reaktors Ende der Neunzigerjahre erlitten habe. Viele Ingenieure seien danach in den Ruhestand gegangen.

Dass sich Siemens schließlich aus dem Nukleargeschäft und Flamanville 3 zurückzog, gilt auch nicht als projektfördernd. Der Misserfolg trug dazu bei, dass die erhoffte Auftragswelle für neue EPR ausblieb. Die Anlagen in Taishan und Olkiluoto wurden auch als Reaktoren dieses Typs errichtet, ansonsten aber ist Hinkley Point C in England das einzige weitere laufende EPR-Projekt – und auch dort wurden der Zeit- und Kostenrahmen gesprengt.

EDF fokussiert sich damit bis auf Weiteres auf den Heimatmarkt. Dort sollen nach dem Willen von Staatspräsident Emmanuel Macron die Laufzeiten verlängert und sechs neue Reaktoren gebaut werden mit Option auf acht weitere. Das Design der EPR2 genannten Anlagen soll einfacher sein als das des EPR, verspricht man bei EDF. Man habe aus Flamanville 3 die Lehren gezogen. Der zeitgleiche Bau mehrerer Reaktoren soll zudem Verbundvorteile ermöglichen.

Die Vorarbeiten laufen, Macron strebt den ersten Spatenstich in seiner bis 2027 dauernden Amtszeit an. Die Inbetriebnahme wird für die zweite Hälfte der 2030er-Jahre in Aussicht gestellt. Über die Baukosten, die sich nach jüngster Schätzung allein für sechs neue Reaktoren auf 67,4 Milliarden Euro belaufen, wird in Paris zurzeit intensiv gerungen.