Zwei Rezessionsjahre in Folge gab es in Deutschland nur einmal zuvor: Auch angesichts der Wirtschaftsprobleme spricht die FDP von einem Herbst der Entscheidungen. Deren Fraktionschef Dürr nennt im Interview Bedingungen für das umstrittene Rentenpaket und fordert schärfere Migrationsregeln.
Der Aufschwung in Deutschland verzögert sich ein weiteres Mal. Nach einem Minus von 0,3 Prozent im Vorjahr soll das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 0,2 Prozent schrumpfen. Wie außergewöhnlich das ist, zeigt der Blick zurück: Zwei Rezessionsjahre in Folge, das gab es in der Geschichte der Bundesrepublik bislang nur einmal. Und zwar zu Zeiten der Rot-Grünen-Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) in den Jahren 2002 und 2003. Im Interview mit WELT äußert der Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion Christian Dürr Optimismus, dass es große politische Bereitschaft gebe, Deutschland wirtschaftlich voranzubringen.
WELT: Herr Dürr, welche Schuld schreiben Sie der eigenen Ampel-Regierung an der schrumpfenden Wirtschaft 2023 und 2024 zu?
Christian Dürr: Man muss leider feststellen, dass sich die wirtschaftliche Situation schon vor Jahren abgezeichnet hat. Seit Langem investieren die Unternehmen nicht genug, um jetzt zu wachsen.
WELT: Also sind die Unternehmen schuld?
Dürr: Nein, ausdrücklich nicht, sondern die Rahmenbedingungen.
WELT: Zu denen auch die Ampel-Regierung gehört. Laut Ökonomen verunsichert der Dauerstreit zwischen SPD, Grünen und FDP Unternehmer und Verbraucher mittlerweile derart, dass diese weder investieren noch konsumieren.
Dürr: Ich kann die Kritik verstehen, und deswegen hat Finanzminister Christian Lindner von einem Herbst der Entscheidungen gesprochen. Jetzt muss entschieden werden, wie dieser Standort in Zukunft aussieht. Und deswegen muss die Wachstumsinitiative vor Weihnachten umgesetzt werden.
WELT: Reichen für eine solche Richtungsentscheidung die Gemeinsamkeiten der Koalitionspartner noch aus?
Dürr: Ich will ein bisschen Optimismus verbreiten. Wir haben aktuell die Situation, dass es eine große politische Bereitschaft gibt, wirtschaftlich etwas in Deutschland voranzubringen. Da gibt es Bewegung. Diese Chance müssen wir jetzt nutzen. Wirtschaftsminister Robert Habeck sprach beispielsweise davon, dass man an das Lieferkettengesetz, das vielen Unternehmen große bürokratische Probleme macht, mit der Kettensäge ran müsse. Genau das fordert die FDP seit Langem.
WELT: Die angekündigte Änderung steckt aber weiterhin im Arbeitsministerium fest. Da gibt es nicht viel Bewegung.
Dürr: Daran muss jetzt zwingend gearbeitet werden. Es ist auch nicht so, dass wir bislang nichts erreicht haben. Nehmen Sie das Thema Planungsbeschleunigung. Die öffentlichen Investitionen liegen auf Rekordniveau. Ist das genug? Nein. Das sage ich ganz klar. Die Sicherheit für Investoren und Verbraucher, nach der Sie zu Recht fragen, die muss in diesem Herbst kommen.
WELT: Also in den nächsten vier Wochen. Denn für den 14. November ist die sogenannte Bereinigungssitzung angesetzt, das entscheidende Treffen der Parlamentarier für den Bundeshaushalt 2025. Dann müssen alle Maßnahmen, die Geld kosten, beschlossen sein. Oder?
Dürr: Es geht vor allem um die Beschlussfassung des Haushalts Ende November. Nach diesem Herbst müssen Unternehmen in Deutschland das berechtigte Gefühl haben, dass es sich wieder lohnt, in diesen Standort zu investieren. Das muss das Ziel aller drei Koalitionspartner sein.
WELT: Wenn das nicht gelingt, ist die FDP dann raus aus der Koalition?
Dürr: Damit beschäftige ich mich nicht. Die Menschen wollen Ergebnisse. Das ist unser Job. Bei allem Ärger, den wir in der Vergangenheit miteinander hatten, ist es unsere Aufgabe, das jetzt zu erledigen.
WELT: Welche Punkte aus der Wachstumsinitiative müssen in jedem Fall umgesetzt werden, damit Sie weitermachen?
Dürr: Am Ende muss die gesamte Wachstumsinitiative kommen. Da spreche ich von schärferen Sanktionen für jene Bürgergeldempfänger, die nicht bereit sind zu arbeiten. Da spreche ich von steuerlichen Anreizen für Unternehmen, damit sie hier investieren. In dieser dramatischen wirtschaftlichen Situation ist ein Nein keine Option. Das gilt übrigens auch für die CDU-geführten Länder. Die verbesserten Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen dürfen im Bundesrat nicht blockiert werden.
WELT: Sie erwarten von der CDU, dass sie der Ampel-Koalition hilft?
Dürr: Ich weiß, dass auch Friedrich Merz ein Interesse am Erfolg Deutschlands hat. Deswegen gehe ich davon aus, dass er alles dafür tun wird, dass die Wachstumsinitiative von den CDU-geführten Ländern im Bundesrat unterstützt wird.
WELT: Top-Ökonomen kritisieren, dass die Initiative nicht ausreicht, um die Wirtschaft wieder flott zu kriegen.
Dürr: Mir fällt es leicht, darüber hinauszugehen. Gerade beim Thema Bürokratie ließe sich viel machen. Aber da stoßen wir leider seit Jahren an die gläserne Decke in Europa. Beispiel Taxonomie, also die Definition, was Nachhaltigkeit ist. Ich halte das für überflüssig. Das reguliert uns zu Tode und sorgt dafür, dass kaum noch investiert wird. Anderes Beispiel: Die CO₂-Flottengrenzwerte für die Automobilindustrie, die nichts bringen und unsere Kernindustrie kaputt machen. Die müsste man abschaffen. Auch in Europa ist derzeit Bewegung, es wird darüber gesprochen, die härteren CO₂-Vorgaben wenigstens zu verschieben.
WELT: Ein anderes Problem für den Standort Deutschland sind die hohen Abgaben, die Arbeit sehr teuer machen. In der Situation will die Ampel-Regierung mit dem Rentenpaket II das Rentenniveau auf viele Jahre hinaus festschreiben – wodurch die Beiträge noch stärker steigen als ohnehin schon. Die SPD pocht darauf, innerhalb der FDP-Fraktion gibt es Widerstand.
Dürr: Sehen Sie mir nach, dass ich die Verhandlung nicht in der Öffentlichkeit führe. Klar ist, wir alle wollen stabile Renten. Die Babyboomer haben ein berechtigtes Interesse daran, dass ihre Renten sicher sind. Aber klar ist auch, das muss finanziert werden. Niemand will dauerhaft steigende Beiträge. Insbesondere auf Druck der FDP sind wir die erste Bundesregierung, die mit dem Generationenkapital in die Kapitaldeckung der gesetzlichen Rente einsteigt und bei der privaten Altersvorsorge die Nachteile der Riester-Rente überwinden will. Stichwort: Altersvorsorgedepot. Alle Punkte gehören zusammen.
WELT: Die Sicherung des Rentenniveaus kostet bis zum Jahr 2045 geschätzt 500 Milliarden Euro zusätzlich, die von der jungen Generation bezahlt werden müssen.
Dürr: In der politischen Debatte herrscht ein gewisses Missverständnis, als ob man das Rentenpaket isoliert betrachten könnte. Das ist nicht der Fall. Die zentrale Frage, ob die Renten in Zukunft sicher sind, hängt vom wirtschaftlichen Wachstum ab. Das heißt, wenn wir jetzt nicht die Grundlagen für den Wohlstand schaffen, dann wird auch die Rente nicht ausreichend sicher sein. Auch die Ordnung der Migration gehört dazu. Je mehr Menschen am Arbeitsmarkt unterwegs sind, je mehr Wachstum wir haben, desto sicherer sind die Renten. Es muss leichter sein, nach Deutschland zu kommen, um zu arbeiten, als nach Deutschland zu kommen, um nicht zu arbeiten. Deswegen kann man diese Debatte nicht isoliert vom gesamten Wirtschaftspaket führen.
WELT: Kann die Koalition am Rentenpaket scheitern?
Dürr: Für mich ist die entscheidende Frage, wie wir die erwartete Kostensteigerung noch abmildern können. Ich gehe davon aus, dass auch die Koalitionspartner eine stabile Beitragssituation in den 2030er-Jahren haben wollen. Dafür müssen wir alles tun. Darüber werden wir in den nächsten Wochen sprechen. Das Rentenpaket muss am Ende solide finanziert sein. Ansonsten geht das Versprechen sicherer Renten ins Leere.
WELT: Für die Koalitionspartner ist die Schuldenbremse der Grund vieler Probleme. Wirtschaftsminister Robert Habeck sprach diese Woche davon, dass es sehr viel stärkere Impulse für die Wirtschaft geben könne, wenn die Bremse gelockert würde.
Dürr: Eine Lockerung der Schuldenbremse ist mit der FDP nicht zu machen. Es ist ein Irrglaube, man müsse die Schleusentore öffnen, dann wäre für alles mehr Geld da. Der bequeme Weg im Schlafwagen der Haushaltspolitik führt zu horrenden Schulden und zu Quatschausgaben. Unser Weg führt zu Stress und zu Knappheiten. Aber ich glaube, es braucht den einen, der den Finger in die Wunde legt. Am Ende wird für 2025 ein Haushalt stehen, mit dem wir das Geld bewusst knapp halten. Wir wollen beispielsweise, dass mehr Menschen arbeiten und so Wohlstand schaffen – nicht Arbeitslosigkeit alimentieren. Das ist eine andere Art von Haushaltspolitik. Aber sie ist im Interesse derjenigen, die das alles erwirtschaften.
WELT: Für Investitionen fehlt aber Geld.
Dürr: Wer sagt das? Wir haben im Bundeshaushalt historisch hohe Ansätze für Investitionen in Straßen und Schienen. Was wir in Deutschland aber vor allem brauchen, das sind private Investitionen. Neun von zehn Euro werden privat investiert. Wenn wir alle Investitionen verstaatlichen, die bislang privatwirtschaftlich waren, dann machen wir den Staat groß und die Privatwirtschaft klein. Das Gegenteil ist angezeigt.
WELT: Ein anderer Streitpunkt ist die irreguläre Migration. Die FDP drängt wie die Union auf schärfere Regeln.
Dürr: Es muss gelingen, im Bund und in den Ländern zu einer echten Ordnung und Kontrolle der Migration zu kommen. Die irreguläre Zuwanderung muss nach unten gebracht werden und die Arbeitskräfteeinwanderung nach oben. Dafür brauchen wir alle Beteiligten an einem Tisch. Ich schlage vor, dass in der kommenden Woche die Partei- und Fraktionsvorsitzenden aus der Koalition und von der größten Oppositionspartei zu einem Migrationsgipfel zusammenkommen.
WELT: Was erwarten Sie sich konkret von so einem Treffen?
Dürr: Zuletzt kamen interessante Vorschläge aus den schwarz-grün regierten Ländern, darüber will ich sprechen. Die ins Spiel gebrachte Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten wäre auch aus Sicht der FDP ein sehr effektives Instrument, um mehr Kontrolle zu bekommen. Wir wollen wissen, ob man einen gemeinsamen Weg finden kann. Bundesinnenministerin Nancy Faeser scheint dafür offen zu sein. Es liegt jetzt also an den Grünen, ob eine überparteiliche und wirksame Lösung gelingt.
Karsten Seibel ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet unter anderem über Haushalts- und Steuerpolitik.