FC Bayern München: So funktioniert die Taktik unter Vincent Kompany

Vor allem die Offensivstärke des FC Bayern zum Saisonstart ist ein Paradebeispiel dafür, wieso das, was oft als eine „gute Taktik“ bezeichnet wird, nicht einfach von allein funktioniert. Vielmehr muss sie vor allem gut umgesetzt werden. Andernfalls bringt sie womöglich zwar manchen Erfolg, aber bei Weitem nicht die beeindruckende Dominanz, die die Münchener in der laufenden Saison an den Tag legen. Die meisten Teams der Bundesliga könnten vermutlich von jetzt auf gleich genau denselben taktischen Plan verfolgen wie sie.

Das Problem aber wäre: Sie bräuchten einen langen Arbeitsprozess, um ihn genauso gut auszuführen. Das ist bei den Bayern das Ergebnis akribischer Arbeit aus zahlreichen Trainingswochen, von vielen Details beim Coaching, in Übungen und in diversen Videoschulungen. Es ist wohl kein Zufall, dass die Bayern im ersten Jahr unter Trainer Vincent Kompany sehr gut waren, im zweiten Jahr nun aber herausragend sind.

Viele Dreiecke mit diagonalen Passwinkeln

Das Geheimnis des Erfolgs der Bayern findet sich nicht in den einzelnen taktischen Konzepten, die sie verfolgen. Diese findet man in ähnlicher Form bei vielen anderen Teams. Indem sich im Spielaufbau beispielsweise einer der beiden Sechser seitlich in den Halbraum absetzt und der andere als Anker im Zentrum bleibt (siehe Grafik), entsteht zusammen mit den beiden Innenverteidigern eine leicht asymmetrische 3-1- oder auch 2-2-Struktur.

F.A.Z.-Grafik

Sie bietet viele Dreiecke mit diagonalen Passwinkeln, über die sich die Münchner nach vorne kombinieren können. Eine Ebene weiter vorne bewegen sich der Mittelstürmer und der „Zehner“, also der offensive Mittelfeldspieler, aus dem Zentrum heraus äußerst variabel. Sie tauchen im Prinzip auf dem gesamten Feld auf, was bei Harry Kane beispielsweise im Spiel gegen Borussia Dortmund vor einigen Wochen besonders extrem auffiel.

Die beiden Flügelstürmer Michael Olise und Luís Díaz starten dagegen deutlich weiter außen. Sie sollen die gegnerische Verteidigung weit in Richtung deren Tor binden, an der letzten Linie also, und dafür sorgen, dass die Abwehrkette breit stehen muss. Olise und Diaz erhalten viele Bälle in den Fuß gespielt, um dribbeln zu können.

Situativ kann sich jeder dieser vier Offensivspieler kurzzeitig in die Aufbauzone zurückfallen lassen, um den 3-1- beziehungsweise 2-2-Aufbau als fünfter Mann zu ergänzen. Wenn dies einer der Flügelstürmer macht, muss temporär der Außenverteidiger die Besetzung des Flügels übernehmen.

Tim Rieke ist Mitbegründer des renommierten Taktik-Portals Spielverlagerung.de, Autor und Trainer im höherklassigen Jugendfußball.
Tim Rieke ist Mitbegründer des renommierten Taktik-Portals Spielverlagerung.de, Autor und Trainer im höherklassigen Jugendfußball.Privat

Normalerweise agieren die Münchener Außenverteidiger aber eindeutig aus den Halbräumen heraus. Ihre Rolle könnte am ehesten als ein „Geheimrezept“ der Bayern gelten. Sie passen mit enormer Laufbereitschaft immer wieder ihre Position an. Beispielsweise weichen sie aus dem Zentrum ein paar Meter nach außen, wenn sie erkennen, dass die Ballzirkulation unter Druck zu geraten droht und die Mitspieler eine Anspielstation benötigen. Wie geschickt und aktiv die Außenverteidiger ihre Rolle ausführen, steht exemplarisch dafür, was die Bayern so stark macht. Das Besondere liegt dabei in der außergewöhnlichen Qualität bei der Umsetzung einer guten und schlüssigen Spielweise.

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Das wird auch deutlich, wenn man sich das Verhalten der vier Aufbauspieler anschaut, also der Innenverteidiger und Sechser. Noch entscheidender als die Frage, wie diese sich im Ballbesitz formieren, sind die Abstände, in denen sie ihre Struktur ausführen. Bayerns Aufbauspieler sind gut darin geschult zu erkennen, wann sie etwas breiter auffächern müssen, um sich Raum zu verschaffen und die Wege für gegnerische Stürmer, die sie anlaufen, zu verlängern, und wann sie die Abstände verkleinern müssen, um die eigenen Passwege zu verkürzen.

Dasselbe gilt für die Offensivspieler, die sich situativ ins Aufbauspiel einschalten. Wenn der Gegner früh draufgeht, spielen Mittelstürmer oder „Zehner“ mitunter als zusätzlicher „Sechser“ mit. Diese Beteiligung rund um den eigenen Strafraum, zuletzt mehrmals vor allem bei Harry Kane zu beobachten, hilft beim Auflösen von Drucksituationen und erleichtert das Aufrücken in die Offensivzonen.

Flexible Außenverteidiger zum Öffnen des Raums

Sind die Bayern einmal im vordersten Drittel angekommen, gehen die Angriffe zumeist von den Flügeldribblern aus, die dabei jedoch Unterstützung von ihren Mitspielern erhalten. Vor allem die Außenverteidiger bieten sich sehr flexibel an, ob durch Hinter- oder Vorderlaufen, für Doppelpässe oder zum Öffnen des Raums. Häufig nutzen die Münchener auch Überladungen einer Seite mit vielen Spielern in Ballnähe. Auch wenn sie mal kontern, kommt den Münchnern zu Gute, dass alle Spieler so aktiv sind und nachrücken.

Doch wie schaffen die Bayern es derzeit so häufig, ihre Gegner in Strafraumnähe hinten einzuschnüren? Dabei helfen wiederum die engen Halbraumpositionen der eingerückten Außenverteidiger. Das macht die Wege kurz für ein schnelles Gegenpressing, sobald der Ball verloren ist, und ermöglicht den Bayern, den Rückraum rund um den Strafraum dicht zu besetzen. Daneben ist entscheidend, dass die Münchner insgesamt als Team weit nachschieben, also aufrücken, und aggressiv „vordecken“.

Damit ist die Vorwärtsverteidigung gemeint, bei der man versucht Pässe und Zweikämpfe zu antizipieren, um den Ball zu erobern. Selbst die hintersten Verteidiger der Bayern rücken tief bis in die gegnerische Hälfte vor. Sie ordnen sich dort direkt den ein oder zwei gegnerischen Umschaltspielern zu, um diese am Aufdrehen zu hindern und zu verhindern, dass sie mit dem Ball am Fuß losrennen können.

Um diesen aggressiven Stil so spielen zu können, verfügt Kompanys Team mittlerweile über die nötige Fitness und Athletik, die zudem für das kraftintensive Defensivspiel nützlich ist. Gerade die Innenverteidiger und Sechser sind zudem in der zweiten Saison noch besser an diese Spielweise gewöhnt und haben sie als Selbstverständlichkeit verinnerlicht. Der unter den Verteidigern einzige Neuzugang Jonathan Tah profitiert davon, dass er aus Leverkusener Zeit unter Xabi Alonso bereits ein aggressives Vordecken kennt.

Dass die Münchener Siegesserie nun ausgerechnet an diesem Wochenende bei Union Berlin riss, zeigt, wie stark der Erfolg auf der Umsetzungsqualität der eigenen Taktik beruht: Nach der kräftezehrenden zweiten Halbzeit von Paris waren die Bayern nicht frisch – und schon funktionierten die typischen Abläufe nicht so sauber wie sonst.