Fachleute stellen Konzept zur Gewaltprävention bei psychisch Kranken vor

Als im Mai eine Frau am Hamburger Hauptbahnhof auf zahlreiche Menschen eingestochen hat, stand eine Frage im Fokus: Wie kann man Taten von psychisch kranken Menschen verhindern, die zuvor schon gewalttätig und sogar in stationärer Behandlung waren?

Diese Frage stellt sich seit langem: Nach der Attacke im Januar in Aschaffenburg, als ein psychisch kranker Afghane mit einem Messer auf eine Kindergruppe eingestochen und zwei Menschen getötet hat. Und ebenso nach dem Angriff in der Würzburger Innenstadt im Juni 2021, als ein psychisch auffälliger Somalier drei Frauen mit einem Messer erstochen hat.

Im Januar kam es in Aschaffenburg zu einer tödlichen Messerattacke auf eine Kindergartengruppe.
Im Januar kam es in Aschaffenburg zu einer tödlichen Messerattacke auf eine Kindergartengruppe.dpa

Die Fachgesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie DGPPN hatte nach der Tat von Aschaffenburg angekündigt, Vorschläge für eine verbesserte Gewaltprävention zu erstellen. Die Fachgesellschaft hat jetzt ein Positionspapier vorgestellt, das als wesentliche Präventionsmaßnahme den verbesserten Zugang zu Therapie und Betreuung anführt. Um das Risiko für Gewalttaten zu reduzieren, müssen demnach vor allem drei Elemente der Unterstützung ausgebaut werden: die Versorgungsstrukturen, die Eingliederungshilfe und die Sozialpsychiatrischen Dienste.

Erstmals hebt die DPGGN nun deutlich die erhöhten Risiken für Gewalttaten hervor, die von psychisch Erkrankten ausgehen können. Die Fachgesellschaft bezieht sich auf „neuere komplexe Studien“, die ein statistisch erhöhtes Risiko für Menschen mit psychischen Erkrankungen belegen, gewalttätig zu werden. Das Risiko ist demnach „eindeutig gesichert für Schizophrenien und andere Psychosen“. Zudem für Drogensucht und Alkoholabhängigkeit sowie für schwere Persönlichkeitsstörungen. Die Präsidentin der DGPPN, die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, stellt jedoch klar, dass „die überwiegende Mehrheit der Menschen, die an diesen Erkrankungen leiden“ nicht gewalttätig seien. Laut DGPNN gibt es in Deutschland 18 Millionen Menschen mit psychischen Erkrankungen.

Nach der Tat von Aschaffenburg war die Einschätzung der DGPPN zu den Risiken noch eher zurückhaltend. Damals teilte die Gesellschaft mit, dass „bestimmte psychische Erkrankungen“ mit einem erhöhten Risiko für Gewalttaten „einhergehen können“. Neue gesetzliche Regelungen oder ein Register für psychisch kranke Gewalttäter hatte die Fachgesellschaft nach Aschaffenburg abgelehnt. Bei dieser Haltung ist sie geblieben: „Register“ oder die „Weitergabe von medizinischen Daten an Behörden“ würden das Gewaltrisiko nicht mindern – im Gegenteil. Wenn ein Patient aus „Furcht vor Stigmatisierung“ nicht oder spät zum Arzt gehe, werde das Risiko für Gewalttaten erhöht. Die Beobachtung einer „großen Zahl psychisch erkrankter Menschen durch behördliche Dienste“ ist demnach weder „praktisch möglich“ noch „erfolgversprechend“.

Therapie mit „sozialer Integration“

Laut Gouzoulis-Mayfrank müssen die „bestehenden rechtlichen Möglichkeiten“ konsequent genutzt werden. Die wirksamste Gewaltprävention ist demnach eine psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung. Denn eine „konsequente Therapie“ senke „nachweislich“ das Risiko für Gewalttaten. Die Therapie muss jedoch mit „sozialer Integration“ einhergehen. Nur so könnten die Risiken minimiert werden, die aus einer psychischen Erkrankung entstehen können. Denn: Diese Risiken werden noch erhöht durch weitere Risikofaktoren für Aggressionen, die sich aus den Lebensumständen der Menschen ergeben können. Dazu zählt die Fachgesellschaft jugendliches Alter und männliches Geschlecht, Alkohol- und Drogenkonsum, Gewalterfahrung, das Aufwachsen in sozialer Vernachlässigung, soziale Isolation, Armut und Wohnungslosigkeit.

Hatte es die DGPPN nach Aschaffenburg noch vermieden, auf die besonderen Risikofaktoren gerade bei Asylbewerbern hinzuweisen, werden diese nun eigens erwähnt: Vor allem bei „der Gruppe der Geflüchteten“ treffen demnach mehrere Risikofaktoren für Aggression und Gewalttätigkeit zusammen. Das Risiko wird laut Positionspapier noch weiter verstärkt, da für diese Personen der Zugang zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung in den ersten drei Jahren ihres Aufenthaltes in Deutschland „nur begrenzt“ möglich sei.

Wie soll nun laut Fachgesellschaft die Prävention verbessert werden? Zunächst werden Defizite benannt: Die Fachgesellschaft kritisiert, dass „die Angebote der Regelversorgung nicht ausreichend“ sind. Gefordert wird daher, niedrigschwellige Behandlungsmöglichkeiten flächendeckend auszubauen. Diese Angebote sollen sich „flexibel am Bedarf der Betroffenen orientieren“. Sie sollen insbesondere auch „sozial marginalisierte Betroffene und Geflüchtete“ ansprechen. Gerade schwer erkrankte Personen würden durch die ambulante psychiatrische Regelversorgung „häufig nicht erreicht“. Was damit zum Ausdruck gebracht wird, ist ein gravierendes Problem: Wenn die Betroffenen die Angebote, die ihnen vielleicht zuvor in der stationären Behandlung empfohlen wurden, nicht in Anspruch nehmen. Somit müssen laut DGPPN auch Möglichkeiten geschaffen werden, die Erkrankten da zu behandeln, wo man sie erreiche – also auch „aufsuchend“ in ihrem Wohnumfeld. Doch auch hier gibt es dasselbe Problem wie bei den ambulanten Angeboten: Es gibt Betroffene, die sich nicht „aufsuchen“ lassen wollen und Hilfen verweigern.

Gesetzliche Möglichkeiten stärker nutzen

Als weitere Präventionsmaßnahme wird der Ausbau der Eingliederungshilfe genannt. Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und erhöhten Risiken für Gewalttaten müssten „ausreichend“ Leistungen zur sozialen und beruflichen Teilhabe erhalten. Auch braucht man demnach mehr Personal für die Sozialpsychiatrischen Dienste der Kommunen, die mit der Fürsorge für Betroffene auch einen Beitrag zur Gefahrenabwehr leisteten. Ebenso sollte man über den Aufbau von forensisch-psychiatrischen Fachstellen bei den Polizeibehörden nachdenken.

Die Fachgesellschaft hebt hervor, dass man vor allem diejenigen Betroffenen „gezielt unterstützen“ muss, die sich bereits in der Vergangenheit aggressiv oder gewaltbereit gezeigt haben – und deshalb in einer psychiatrischen Klinik untergebracht waren. Das war der Fall bei den Tätern in Aschaffenburg und Würzburg, ebenso bei der Täterin in Hamburg. Die DGPPN empfiehlt, diese Personengruppe zusätzlich „intensiv und flächendeckend“ zu betreuen.

Besonders herausfordernd sind zudem Patienten, die bereits durch Aggressivität aufgefallen sind und sich jedoch gegen eine Behandlung aussprechen. Die Fachgesellschaft drängt darauf, hier die bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten stärker zu nutzen, um Personen mit Gewaltrisiko auch gegen ihren Willen unterzubringen – und gegen ihren Willen mit Medikamenten zu behandeln. Festgestellt wird hier in der Praxis eine „zum Teil große Zurückhaltung bezüglich einer unfreiwilligen medikamentösen Behandlung im Rahmen einer Unterbringung“. Verwiesen wird zudem auf die schwierige rechtliche Lage in den Psychiatrien: Denn eine Unterbringung ist nur solange möglich, solange der Patient eine Bedrohung für sich oder andere darstellt. Die rechtlichen Grundlagen für diese Unterbringung sind in den jeweiligen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzen (PsychKHG) der Bundesländer geregelt. Die Unterbringung werde jedoch „unmittelbar“ beendet, „wenn die akute Symptomatik abgeklungen ist, auch wenn sich der Zustand noch nicht ausreichend stabilisiert hat“. Damit sei „weder den Betroffenen noch der Gesellschaft geholfen“. Diese Praxis sollte laut DGPPN „unbedingt“ überdacht werden.

Aus der Psychiatrie entlassen, aber nur unter Auflagen

Um Patienten besser zur Behandlung zu motivieren, schlägt die Fachgesellschaft eine Art Bewährung vor: Patienten könnten unter Auflagen die gesetzlich beschlossene Unterbringung in der Psychiatrie verlassen. So könne zum Beispiel festgelegt werden, dass der Patient „verpflichtend“ seine Medikamente erhält und keine Drogen nimmt. Wenn er jedoch gegen die Auflagen verstößt, könne er zurück in die Klinik gebracht werden. Diese Möglichkeit, so die Präsidentin, werde zur Zeit sehr selten genutzt. Doch es sei geeignet, um in „ausgewählten Fällen“ nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie eine „konsequente Therapie“ sicherzustellen.

Die DGPPN weist zudem darauf hin, dass nach einer „unfreiwilligen“ Unterbringung gemäß der Landesgesetze schon jetzt eine „Informationspflicht“ der Kliniken an Gerichte, Sozialpsychiatrische Dienste, weiterbehandelnde Ärzte und Ordnungsbehörden besteht. Kritisch scheint jedoch zu sein, dass diese Informationspflichten je nach Landesgesetz „unterschiedlich“ geregelt werden – die Fachgesellschaft empfiehlt hier eine „Harmonisierung“. Informationen über Patienten mit Gefährdungspotential, die über diese Regelungen hinaus gehen, wertet die DGPPN jedoch als „unverhältnismäßige Aushöhlung der ärztlichen Schweigepflicht“. Unterstellt wird hier eine „geringe Treffsicherheit bei der Vorhersage von Gewaltereignissen“ – daher seien erweiterte Informationen über Patienten „nicht vertretbar“.

Das Positionspapier der DGPPN wird nach eigenen Angaben von einer Vielzahl von Fach- und Klinikverbänden sowie von Angehörigen- und Betroffenengruppen unterstützt. Es soll nun eine „praxisorientierte“ Diskussionsgrundlage darstellen, um Präventionsmaßnahmen zu erarbeiten.