Europäische Union: Deutsche wollen stärkere Führungsrolle in der EU

Zwei Drittel
der Menschen in Deutschland halten eine stärkere Führungsrolle Deutschlands in
der EU für sinnvoll. Gleichzeitig wünscht sich eine große Mehrheit in Zukunft ein kooperatives Auftreten der Bundesregierung in Brüssel: Eine deutsche
Dominanz über andere Mitgliedsstaaten und deren Interessen wird nicht als
zielführend gesehen.  

Das sind Ergebnisse der diesjährigen
Ausgabe der Langzeitstudie Selbstverständlich europäisch!? der
Heinrich-Böll-Stiftung und dem Progressiven Zentrum, die ZEIT ONLINE exklusiv
vorab vorliegt. Hierfür wurden 5.000 Personen im Mai 2025 online befragt. Die
Ergebnisse sind repräsentativ für die Einwohnerinnen und Einwohner der
Bundesrepublik Deutschland ab 18 Jahren. 

Demnach bewerten mehr als 65 Prozent
der Befragten eine stärkere Führungsrolle Deutschlands in der EU als eher oder
sehr positiv. Zudem zeigt sich, dass für die Mehrheit der Befragten (58,5
Prozent) die Vorteile der EU-Mitgliedschaft überwiegen. 

Eine mögliche Interpretation der
Ergebnisse ist laut Jan Philipp Albrecht, dem Vorstand der
Heinrich-Böll-Stiftung, dass die globalen Krisen (Ukraine, Israel, USA) den
Mehrwert der EU in den Vordergrund rücken. „Damit die EU nicht nur in
Krisenzeiten handlungsfähig ist, braucht sie die nötige finanzielle
Ausstattung“, sagt er. Gerade angesichts blockierender nationaler
Regierungen könne „die verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen der EU nötiger
werden“, sagt der frühere grüne EU-Abgeordnete und ehemalige Landwirtschaftsminister von Schleswig-Holstein.  

Verschiebungen der Prioritäten

Die Prioritäten der deutschen
EU-Politik sollten laut den Befragten auf den Themen Migration und Integration
(56,0 Prozent), Sicherheit und Verteidigung (55,3 Prozent) sowie der
wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit (46,1 Prozent) liegen.  

Zusätzliche gemeinsame Investitionen
befürwortet eine Mehrheit bei Verteidigung (52,1 Prozent). Es folgen innere
Sicherheit (45,5 Prozent), Forschung, Bildung und Innovationen (36,8 Prozent) sowie Wirtschaft (35,5 Prozent).  

Mehr als die Hälfte der Befragten
(56,5 Prozent) ist der Meinung, dass europäische Verteidigung in erster Linie eine gemeinsame
Aufgabe sein sollte. Eine stark europäisch geprägte Einstellung zu Sicherheit
und Verteidigung ist vor allem bei den Anhängerinnen und Anhängern der Grünen (82,8 Prozent), der
SPD (76,3 Prozent) und der Linken (71 Prozent) zu beobachten. Die Wählerinnen
und Wähler der FDP (68,9 Prozent) und CDU/CSU (64,5 Prozent) vertreten eine
etwas gemäßigtere, aber klar proeuropäische Position. Deutlich zurückhaltender
sind da die Anhänger der AfD (27,6 Prozent) und vom BSW (30,9 Prozent). Sie
lehnen eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik eher
ab.  

Ein gemeinsamer europäischer
Klimaschutz hingegen rückt angesichts der weltpolitischen Lage in den
Hintergrund: 2025 befürworten nur 24,8 Prozent mehr gemeinsame Ausgaben in
diesem Bereich – im Jahr 2022 waren es noch 42,2 Prozent. 

Die Autorinnen der Studie, Maria Skóra
und Georg McCutcheon, warnen im Gespräch mit ZEIT ONLINE vor einer
Schwerpunktverschiebung europäischer Investitionen auf „Kosten von Klima- und
Sozialpolitik“. Diese Politikbereiche müssten „vernetzt gedacht werden“,
fordern sie. Die Errungenschaften des European Green Deal dürften „nicht weiter
verwässert werden“.