Schneeflocken tanzen auf dem Asphalt von Oulu im Norden Finnlands. Am Vormittag prasseln sie vom Himmel. Am Nachmittag leuchten sie dann als Videoprojektion über einen breiten Platz im Stadtzentrum. Als Vorgeschmack auf das „Lumo Light Festival“. Am vorletzten Wochenende im November bringt es multimediale Lichtinstallationen ins Zentrum der Küstenstadt, die am Bottnischen Meerbusen liegt, und auf die umliegenden Inseln.
Zwei ältere Frauen fotografieren sich freudig, ansonsten ist noch wenig los. Schon bald soll sich das ändern: Im kommenden Jahr trägt die Stadt mit rund 216.000 Einwohner:innen den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt – genau wie die Stadt Trenčín in der Slowakei.
Zwischen Bottnischem Meerbusen und Lappland ist das Wetter Smalltalk-Thema und Überlebensfrage zugleich. Ein Taxifahrer aus Somalia erzählt, dass der Winter hart sei – auch nach zehn Jahren in Finnland. Beim Ausstieg sind die Wege vereist, der Atem gefriert. Einige Hartgesottene fahren auf Fahrrädern mit dicken Reifen vorbei, von ihren Jacken baumeln Reflektoren.
„Im Winter bleiben die Leute zu Hause. Sie besuchen einander nicht, gehen weniger ins Stadtzentrum. Depressionen sind weit verbreitet“, erklärt der Projektleiter Jarkko Halunen vom Light-Festival im Gespräch. „Wir versuchen, den Menschen einen Anlass zu geben, um in dieser Zeit zusammenzukommen. Anfang November sieht man zwanzig Menschen im Stadtzentrum, während des Festivals ist das völlig anders.“
In den Monaten der dunklen Jahreszeit verlagert sich das gesellschaftliche Leben nach drinnen – zum Beispiel in die zahlreichen hellerleuchteten Einkaufszentren der Stadt. An manchen kann man bereits Werbung für die Kulturhauptstadt entdecken. In der Shopping-Mall „Valkea“ ist es am Freitagabend gut gefüllt. Auf der oberen Etage warten Wolt-Fahrer auf ihre Lieferungen. Auf einer Polsterbank haben sie Schalen von Sonnenblumenkernen hinterlassen – Erinnerungen an ein Leben fernab des polaren finnischen Winters.
In Oulu wurde die erste Anlaufstelle Finnlands eröffnet, die Menschen nach rassistischen Übergriffen zur Seite steht.
Erst im vergangenen Sommer kam es im Einkaufszentrum von Oulu zu rassistischen Übergriffen. Ein ehemaliges Mitglied der neonazistischen Gruppierung „Nordic Resistance Movement“ griff ein Kind mit Migrationshintergrund an, anschließend gab es eine weitere Attacke. Zwar gilt Finnland als „glücklichstes Land der Welt“, doch Rassismus wird oft übersehen und statistisch kaum erfasst. In Oulu leben über 13.000 Menschen, deren Muttersprache nicht Finnisch ist.
Die Ereignisse warfen für Kritiker einen Schatten auf den Ruf der Kulturhauptstadt. Doch die Stadt hat reagiert: Ende November wurde in Oulu die erste Anlaufstelle Finnlands eröffnet, die Menschen nach rassistischen Übergriffen mit Rat und Tat zur Seite steht. In diesem Kontext erscheint das Motto der Europäischen Kulturhauptstadt noch relevanter. „Cultural Climate Change“ heißt es.
Die Vielfalt der Gemeinschaft zelebrieren
Während Europa immer weiter nach rechts rückt, soll in Finnland im nächsten Jahr die Vielfalt der Staatengemeinschaft zelebriert werden. Dafür werden 50 Millionen Euro in das Programm investiert. Der Großteil kommt von der Kommune Oulu und der finnischen Staatsregierung, nur ein kleiner Teil von der EU. Für die Programmauswahl setzt das Team der 2021 gegründeten Oulu Culture Foundation sowohl auf lokale Künstler:innen als auch auf solche mit internationalem Renommee. Davon sollen ebenso die Stadtgemeinschaft wie Tourist:innen profitieren: Zwei Millionen Gäste werden erwartet.
Die Organisator:innen wollen den finnischen Norden abseits von klirrender Kälte und Einsamkeit präsentieren. In Oulu und 39 weiteren Gemeinden sind Tausende Veranstaltungen geplant – von einem Rave auf einem zugefrorenen See über eine Astro-Fotografie-Symphonie im Opernhaus. Der „Climate Clock Trail“ führt als Ausstellungspfad von der Stadt zum Ufer des Wildflusses Kiiminkijoki.
Die Kunstwerke von Künstlern wie dem dänischen Kollektiv Superflex und dem japanischen Bildhauer Takahiro Iwasaki sind im Dialog mit der Natur rund um Oulu entstanden und sollen nach Ende des Jahres dauerhaft ausgestellt bleiben. Das erzählt die Kuratorin und Kulturhauptstadt-Expertin Alice Sharp im Gespräch. Erst im kommenden Frühjahr werden die Kunstwerke dem Publikum und der Presse gezeigt.
Einige Kilometer Fahrt nördlich vom Stadtzentrum wird es konkreter. Zwischen Wohngebäuden und verlassenen Parkplätzen liegt das Aalto Silo. Das kathedralisch anmutende Betongebäude entstand 1931 nach Plänen der Architekten Alvar und Aino Aalto. Zunächst wurden hier Holzchips gelagert, aus denen Zellulose für die Papierproduktion gewonnen wurde.
Lost Place
Über die Jahrzehnte wurde der Ort zu einem rauen Lost Place, bis die spanische Initiative Factum Foundation ihn in einer Auktion der Stadt Oulu abkaufte. Ab 2026 soll das Silo zum Begegnungsort für Ausstellungen, Konzerte und DJ-Sets werden. Das kulturelle Programm entsteht in Zusammenarbeit mit der „Oulu Culture Foundation“, die Sanierung läuft seit fünf Jahren vollständig ohne staatliche Unterstützung.
Drinnen pfeift der Wind durch die Holzträger, an der Wand sind Graffiti zu sehen. Schon bald wird der hohe Raum mit elektronischem Dancefloor-Sound, Konzerten und Ausstellungen vibrieren. „Das Aalto Silo wird das einzige kulturelle Angebot für einen Stadtteil von über 3.000 Menschen“, berichtet der junge Projektleiter Valentino Tignanelli stolz beim Gespräch vor dem Silo.
Blinder Fleck in der Stadtentwicklung
„Es gibt viele sozioökonomische Herausforderungen in der Gegend, hier leben viele Geflüchtete und Menschen, die von Abhängigkeitserkrankungen und Arbeitslosigkeit betroffen sind. In der Stadtentwicklung war das Viertel bisher ein blinder Fleck.“ Tignanelli hofft, dass die Wiederbelebung der Fabrik einen neuen Treffpunkt für marginalisierte Communities schaffen wird.
Während das Silo im Stadtteil Meri-Toppila wiederbelebt wird, richtet sich ein inhaltlicher Schwerpunkt von Oulu 2026 auf eine ganz andere Gemeinschaft: die Sámi. Sie sind das einzige indigene Volk Europas – ihr Lebensraum liegt in den nördlichen Regionen Finnlands, Schwedens, Norwegens und Teilen Russlands.
Die Sámi zeichnen sich durch unterschiedliche Sprachen, Kulturen und Traditionen aus. Ihre Geschichte ist auch geprägt von Unterdrückung und Diskriminierung. Die komplexe Identität wird im „Risku“-Programm der Kulturhauptstadt verhandelt, erklärt Kuratorin Aino Valovirta. Sie hat selbst Sámi-Vorfahren, wuchs mit der finnischen Sprache auf. Nach Oulu kam sie, um ihre eigentliche Muttersprache zu erlernen: Nordsamisch.
Kollektiv und vielfältig
Das Giellagas Institut ist die einzige finnische Hochschule, an der man die Sámi-Sprachen und -Kultur studieren kann. Zwar liegt Oulu einige hunderte Kilometer entfernt von deren Siedlungsgebieten, dennoch leben hier Sámi – was die Stadt zum größten samischen Ort südlich ihrer Heimat macht. „Die Sámi-Kultur ist sehr kollektiv und vielfältig“, erklärt Valovirta.
„Es gibt bislang wenig Sámi-Sichtbarkeit in Oulu. Das wichtigste Thema für uns ist Spracherziehung, insbesondere für Kinder.“ Valovirta hat die Oper „Ovllá“ kuratiert, die im Frühjahr im Oulu Theatre Premiere feiern wird. Dabei geht es um einen Jungen, der von seiner Familie getrennt wird und in einem Internat zwangsassimiliert wird. Eine Maßnahme, die bis Mitte des 20. Jahrhunderts praktiziert wurde, auch wenn sie im Gegensatz zu Norwegen und Schweden in Finnland nicht gesetzlich festgelegt war.
Heute werden die Sámi durch ihr eigenes Parlament vertreten – das in die Vorbereitungen auf die Kulturhauptstadt eingebunden wurde. Erst Anfang Dezember wurde der finnischen Regierung ein Bericht vorgelegt, in dem sich die Wahrheits- und Versöhnungskommission für rechtliche und administrative Veränderungen zugunsten der Sámi-Bevölkerung einsetzt. Die Kommission wurde während der Amtszeit von Präsidentin Sanna Marin (2019–2023) einberufen.
Auf kultureller Ebene steht Oulu richtungsweisend für einen möglichen Wandel in der finnischen Gesellschaft. Für das Frühjahr ist im lokalen Kunstmuseum eine große Ausstellung mit samischer Kunst, Handwerk und Design angesetzt. Während die Kuratorin unter Hochdruck an den Vorbereitungen für ihr Programm arbeitet, liefert die Stadt bereits einen kleinen Vorgeschmack auf das Jahr 2026. An einem Freitagabend Ende November wird das Lumo Light Festival eröffnet. Auf den breiten Straßen Oulus wird es langsam voller. Familien mit Kindern und Paare bahnen sich den Weg durch die Innenstadt – die meisten zu Fuß, manche auch mit Schlitten.
Große Pfeile weisen den Weg zu den Installationen, die die wichtigsten Gebäude und Wege der Stadt erhellen. Ein paar Hundert Meter weiter markieren große Buchstaben das Kulturhauptstadt-Jahr. Die Installationen des Light Festivals sind zwar schlicht, entfalten jedoch eine enorme soziale Wirkung. Zur letzten Station geht es auf die Insel Pikisaari.
Wo man normalerweise trotz der Stadtnähe komplette Stille genießen kann, ist es ungewohnt belebt – auf leise, finnische Art. Eine lange Brücke führt zurück in die Innenstadt. Auf dem Platz im Stadtzentrum flackern wieder Schneeflocken auf dem Boden. An diesem Abend scheint es, als würde Oulu gerade erst auftauen – obwohl die Schneeflocken weiterfallen.
