
Schickt allein Volkswagen zehntausende Mitarbeiter in Kurzarbeit, weil China die Lieferung eines bestimmten Mikrochips blockiert? Noch steht nicht fest, ob es so weit kommt, aber die Zahl der Krisenschalten in Wirtschaft und Politik zum Fall Nexperia nehmen von Tag zu Tag zu. Der von China verhängte Lieferstopp für Chips dieses Unternehmens zeigt eindrücklich, wie abhängig die europäische Wirtschaft auch nach Jahren der Debatte um ein „De-Risking“ von China ist. „Die Wahrheit ist, wir sind ausgeliefert“: Mit diesen Worten fasst eine in China tätige Managerin die Lage gegenüber der F.A.Z. zusammen.
Deutschland und Europa werden zerrieben im großen Handelskonflikt zwischen den USA und China. Beide Länder berufen sich auf dabei auf nationale Sicherheitsinteressen. Es geht um die Lieferung von Halbleitern und Seltenen Erden, aber auch um Wechselkurse und ein sich auftürmendes Handelsbilanzdefizit zwischen Deutschland und China. Vor allem aber geht es um Verhandlungsmasse und Drohungen vor dem Gipfel der Präsidenten Donald Trump und Xi Jinping, der für Ende November geplant ist.
Die europäischen Staats- und Regierungschefs treibt derzeit vor allem das Thema Seltene Erden um. Anfang Oktober hat China die Exportrestriktionen für die Rohstoffe, die für nahezu jedes technische Produkt gebraucht werden, drastisch verschärft. Die Produktion in Europa hängt noch mehr als bislang schon vom guten Willen Xis ab. Auf dem EU-Gipfel in Brüssel am Donnerstag wollen die Europäer verschiedene Maßnahmen diskutieren, wie die EU sich gegenüber China wehren kann. Als Ultima Ratio gilt der Einsatz des Anti-Zwangs-Instruments, eines Maßnahmenbündels gegen Erpressung in der Handelspolitik, das eigentlich nur zur Abschreckung gedacht ist. Vorstellbar wären zusätzliche Zölle und ein erschwerter Zugang zu öffentlichen Aufträgen. EU-Handelskommissar Maroš Šefčovič nannte die chinesischen Exportkontrollen „ungerechtfertigt und schädlich“. Er will in den kommenden Tagen bei einem Treffen mit dem chinesischen Handelsminister Wang Wentao in Brüssel nach „dringend benötigten Lösungen“ suchen.
Nexperia-Chips vergleichsweise einfacher Bauart
Das in Deutschland politisch brisanteste Thema ist der Mangel an Nexperia-Chips. Der Chiphersteller beliefert alle Autohersteller beziehungsweise ihre Zulieferer – besser gesagt: belieferte. Weil der Nachschub ausbleibt, bereiten Hersteller wie VW Produktionsstopps und Kurzarbeit vor. Nexperia hat seinen Sitz zwar in den Niederlanden, aber chinesische Eigner. Da die USA die Sanktionen für chinesische Unternehmen auf Tochterunternehmen ausgeweitet haben, fällt neuerdings auch Nexperia darunter. Die chinesische Regierung sanktionierte daraufhin ihrerseits das Unternehmen. Die Chips von Nexperia sind vergleichsweise einfacher Bauart und günstig. In der Industrie hatte man nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet ein solches Produkt zum geopolitischen Spielball wird, hatte sich der Konflikt bislang doch auf Hightechprodukte konzentriert.
Die Bundesregierung zeigt sich zu der Auseinandersetzung wortkarg. „Wir beobachten die Situation mit Sorge, insbesondere im Hinblick auf mögliche Lieferkettenprobleme für die deutsche Industrie“, sagte eine Sprecherin von Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU). Mitarbeiter des Ministeriums tauschen sich seit Tagen mit Wirtschaftsvertretern zu den Lieferengpässen aus, auch für Mittwochabend war ein Krisengespräch geplant.
Vorbild Japan?
Kurzfristig wird die Politik den Autoherstellern und Zulieferern kaum helfen können. Langfristig soll etwa die jüngst verabschiedete Mikroelektronik-Strategie die Abhängigkeit reduzieren. Das allerdings hatten auch schon frühere Regierungen versucht, mit überschaubarem Erfolg. Die gescheiterte Intel-Fabrik in Magdeburg gilt als Musterbeispiel für übertriebene industriepolitische Erwartungen. Auch die Bemühungen der EU und Deutschlands, sich in der Rohstoffversorgung unabhängiger von China zu machen, existieren bislang nur auf Papier.
Die Wirtschaftsverbände in Berlin sehen beim Thema Diversifizierung nicht allein ihre Mitglieder in der Pflicht. „De-Risking ist letztlich eine Kostenfrage“, sagt Ferdinand Schaff, China-Experte beim Bundesverband der deutschen Industrie (BDI). „Das betrifft die Unternehmen, aber auch die Verbraucher und den Staatshaushalt. Wenn wir konsequent Abhängigkeiten reduzieren wollen, werden alle mehr zahlen müssen.“ Auch Maximilian Butek, Chef der deutschen Auslandshandelskammer in Shanghai, sagt: „Das ist keine Aufgabe für die deutsche Wirtschaft allein – hier sind Politik und Wirtschaft gleichermaßen gefragt.“ Mit Blick auf die oft als Vorbild genannte Politik in Japan gibt Melanie Vogelbach, Leiterin internationale Wirtschaftspolitik in der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), zu bedenken: „Japan hat 15 Jahre gebraucht, seine Abhängigkeit bei Seltenen Erden von China von 90 Prozent auf 60 Prozent zu reduzieren. Wir stehen erst am Anfang dieses Prozesses.“
Neben den Chips und den Seltenen Erden bereitet auch die Entwicklung des Außenhandels den Verantwortlichen Sorge. China überholte im laufenden Jahr die USA wieder als wichtigster Handelspartner Deutschlands, weil die Ausfuhren in die USA stark sanken und Deutschland immer mehr Waren aus China einführt. Chinesische Produkte drängen nicht nur wegen der hohen amerikanischen Zölle nach Europa, sondern auch wegen der Wechselkurse. Denn der staatlich kontrollierte Renminbi-Wechselkurs orientiert sich am Dollar. Seit dem Amtsantritt Trumps hat der Euro gegenüber dem Renminbi um ein Zehntel aufgewertet, chinesische Produkte wurden also günstiger.
„Wir haben keinen Hebel“
In Deutschland und Europa wird nun viel darüber diskutiert, ob und wie man beispielsweise Stahlimporte aus China begrenzen sollte, um die eigene Industrie zu schützen – und zugleich erreichen kann, dass die erwünschten Importe von Chips und Seltenen Erden wieder stärker kommen. Außenminister Johann Wadephul (CDU) reist am Sonntag mit einer Wirtschaftsdelegation nach China. Die Reise gilt als Vorbereitung für einen Kanzlerbesuch. Vor möglichen Sanktionen der EU gegen China warnt Armand Zorn, der für Wirtschaft zuständige Fraktionsvize der SPD: „Ein Sanktionswettlauf würde beiden Seiten schaden. Jetzt kommt es auf konstruktiven Dialog und Verlässlichkeit an.“
„Wir haben keinen Hebel“, sagt Alicia Garcia Herrero, die Asien-Chefökonomin der französischen Investmentbank Natixis, die auch für die Brüssler Denkfabrik Bruegel tätig ist. Die EU erzähle zwar überall, den größten Binnenmarkt der Welt zu haben. Aber Europa sei nicht in der Lage, diesen Hebel auszuspielen. „Eine Weltwirtschaft, die von Trump dominiert wird, ist furchtbar. Wird sie von den Chinesen dominiert, wird es für Europa noch furchtbarer.“ Und dann sagt sie einen Satz, der die Lage vieler Europäer, die sich mit der Weltpolitik beschäftigen, auf den Punkt bringt: „Als Europäerin fühle ich mich schrecklich.“