EU-Gipfel in Brüssel: Jetzt läuft alles auf den Showdown hinaus

Olaf Scholz schimpft in Brüssel auf die österreichische Flüchtlingspolitik in der Syrienkrise. Amerikas künftigen Präsidenten warnt der Bundeskanzler vor Alleingängen. Über den Ukrainekrieg aber wird kein EU-Gipfel entscheiden, sondern Donald Trump und Wladimir Putin – schon bald.

Es war 22.06 Uhr im deutschen Pressesaal 20.4 im Justus-Lipsius-Gebäude mitten im Brüsseler Europaviertel, als sich Bundeskanzler Olaf Scholz Österreichs Regierungschef Karl Nehammer vornahm – ohne dabei auch nur einmal seinen Namen zu nennen. Die Forderungen nach einer Rückkehr syrischer Flüchtlinge in ihr Heimatland zum jetzigen Zeitpunkt seien „sehr befremdlich“, zischte Scholz nach Ende des EU-Gipfels. Und dies sei noch eine „höfliche“ Umschreibung, sagte der deutsche Kanzler kühl.

Draußen peitschte der Regen an die Fenster und das Unwetter am Brüsseler Nachthimmel schien in diesem Moment ganz gut zu passen zur düsteren Stimmung im Gesicht von Scholz. Dann machte der Kanzler auch noch eine Ansage: Wer von den rund eine Million Syrern hierzulande „gut integriert“ sei, die deutsche Sprache spreche oder Arbeit habe, der könne auch für immer in Deutschland bleiben. „Selbst, wenn die Verhältnisse sich geändert haben“, sagte Scholz mit Blick auf den Sturz des syrischen Diktators Baschar al-Assad vor zwei Wochen. „Das gebietet auch die Humanität“, fügte er hinzu.

Nur 30 Meter vom deutschen Regierungschef entfernt stand in einem anderen Raum Kanzler Nehammer, der Anti-Scholz. Er begründete vor Journalisten erneut, warum sein Land möglichst viele Syrer schnell zur Rückkehr in ihre Heimat bewegen will und wieso eine gemeinsame europäische Syrien-Strategie notwendig sei. Ausgerechnet am Tag des EU-Gipfels hatte Österreich die Daumenschrauben noch einmal angezogen: Seit neuestem verschickt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Briefe an Syrer und Syrierinnen, die weniger als fünf Jahre im Land leben. In den Briefen heißt es, nach dem Sturz des Assad-Regimes hätten die syrischen Asylsuchenden keine „politische Verfolgung mehr zu befürchten“. Die Betroffenen sollen nun begründen, warum sie trotzdem noch Schutz benötigen. Nur wenn das gelingt, wird das neue Verfahren zur Aberkennung des Schutzstatus eingestellt.

Die Positionen darüber, ob und wann nach dem Regimewechsel in Damaskus ein Teil der in der EU lebenden Syrer wieder nach Hause geschickt werden soll, lagen bei diesem Gipfel in Brüssel weit auseinander. Eine Einigung auf eine gemeinsame europäische Rückkehrstrategie für Syrer gab es nicht. Scholz sagte, eine „Hoffnung“ auf bessere Zeiten reiche dafür nicht aus. Immerhin: Die EU-Spitzen verständigten sich darauf, dass sie im Sturz von Assad eine historische Chance sehen für das Land. Sie forderten deswegen die Europäische Kommission und EU-Chefdiplomatin Kaja Kallas auf, Optionen für mögliche Maßnahmen zur Unterstützung Syriens zu erarbeiten. Dazu könnten etwa die Aufhebung der bestehenden Wirtschaftssanktionen sowie Wiederaufbauhilfen für die Zerstörungen durch den langjährigen Bürgerkrieg zählen.

Elefant im Raum

Auch die Ukraine war Thema beim EU-Gipfel. Der Elefant im Raum war Donald Trump. Der wiedergewählte US-Präsident tritt sein Amt am 20. Januar an. Die Europäer wollen dann vorbereitet sein und Trump geeint und selbstbewusst gegenübertreten. Scholz warnte den neuen US-Präsidenten, dass bei einem möglichen Waffenstillstand oder Friedensverhandlungen „keine Entscheidungen über die Köpfe der Ukrainer, und das meint natürlich auch über die Köpfe der europäischen Staaten getroffen werden dürfen.“

Luxemburgs Premierminister Luc Frieden legte noch eine Schippe drauf: „Die Zukunft der Ukraine wird in Europa entschieden und sonst nirgendwo“. Hat die EU etwa Angst, von Trump vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden? Erst am Montag hatte der gewählte US-Präsident Gespräche mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin und Ukraines Präsidenten Wolodymyr Selenskyj angekündigt, um Wege zur Beendigung des Ukrainekriegs auszuloten. „Wir müssen das Gemetzel beenden“, sagte Trump. Er will den Konflikt offenbar einfrieren und den Waffenstillstand von einer internationalen oder einer europäischen Friedenstruppe – möglichst ohne die Amerikaner – überwachen lassen.

Das will auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Scholz drückt dagegen auf die Bremse. Aber er ist nicht alleine, im Gegenteil. EU und Nato vertreten derzeit die Linie, Kiew müsse zunächst durch mehr Waffenlieferungen in eine bessere Position auf dem Kriegsschauplatz und damit auch am Verhandlungstisch gelangen, und erst dann solle über einen Waffenstillstand gesprochen werden. „Wir müssen darüber reden, wie wir die Ukraine stärker unterstützen können. Wenn wir zu früh zu Verhandlungen drängen, ist das schlecht für die Ukraine“, sagte EU-Chefdiplomatin Kallas.

Im Abschlussdokument des Gipfels heißt es darum auch feierlich, die EU werde Kiew „so lange wie nötig und so intensiv wie nötig“ unterstützen. Das waren nicht nur leere Worte: EU-Ratspräsident Antonio Costa kündigte 30 Milliarden Euro neue Finanzhilfen für Kiew im kommenden Jahr an. Das Geld wird dringend gebraucht, auch zur Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten, aber auch zum Bau von Schutzeinrichtungen. Trotz des Geldsegens schien Selenskyj, der extra nach Brüssel gereist war und zeitweilig an dem Gipfeltreffen teilnahm, nicht wirklich zufrieden zu sein. Zu Recht: Neue Zusagen für die 19 geforderten Luftverteidigungssysteme gegen russische Angriffe erhielt die Ukraine nach Selenskyjs Angaben nicht. Die Folgen sind dramatisch: Russland kann weiterhin nahezu mühelos die Energie-Infrastruktur in der Ukraine zerstören und ukrainische Stellungen und Zivilisten mit tonnenschweren Gleitbomben und tödlichen Marschflugkörpern beschießen.

Und noch etwas macht Selenskyj Sorgen: die Einheit zwischen Amerikanern und Europäern über den künftigen Kurs in der Ukraine. Mehrmals sprach Selenskyj darüber, dass man auf die Einheit zwischen USA und Europa zählen müsse. „Das ist äußerst wichtig, denn wir brauchen diese Einheit, um Frieden zu erreichen“, sagte er. Und fügte hinzu: „Ich glaube, nur gemeinsam können die Vereinigten Staaten und Europa Putin wirklich stoppen und die Ukraine retten.“

In Wahrheit war der EU-Gipfel an diesem Tag nur eine Randnotiz im Weltgeschehen. Die Ergebnisse waren – wie so oft – mager, aber die Formulierungen in der Abschlusserklärung dafür umso blumiger. Die Musik spielte vielmehr in Moskau. Putin lieferte sich bei seiner Jahrespressekonferenz ein Fernduell mit Trump. Der Kreml-Diktator retournierte die Vorlagen von Trump, der bald Gespräche und eine „unverzügliche Waffenruhe“ will. Putin rückte anders als früher – zumindest verbal – von Vorbedingungen für einen gegenseitigen Austausch ab: „Wir haben keine Bedingungen für Gespräche mit der Ukraine“, sagte er. Er sei „jederzeit“ zu einem Treffen mit Trump bereit. Er sprach von möglichen „Verhandlungen und Kompromissen“ Russlands.

Über solche Ansagen aus Moskau können die meisten EU-Staats- und Regierungschefs nur müde lächeln. Und trotzdem: Jetzt läuft alles auf den Showdown in der Ukraine hinaus, ein direktes Gespräch zwischen Putin und Trump, wahrscheinlich irgendwann zwischen Februar und April. Der international anerkannte Militäranalyst Oberst Markus Reisner vom Verteidigungsministerium in Wien sagte WELT dazu: „Der wahrscheinlich wichtigste Moment in den kommenden Monaten wird sein ein Treffen zwischen Trump und Putin. Aus meiner Sicht, wenn Trump etwas auf den Tisch legt, und Putin einigt sich dann mit ihm – auch wenn es gegebenenfalls zu Ungunsten der Ukraine ist, aber das Sterben wäre erst einmal beendet – dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es hält. Wenn dann aber Putin versucht, Trump über den Tisch zu ziehen, dann fällt Trump wahrscheinlich in einen Zustand der Rage. Dann regiert die Emotion bei ihm, dann ist wieder alles offen.“

Die Europäer, aber auch Selenskyj scheinen zu ahnen, dass Trump und Putin die Zügel bald in die Hand nehmen könnten. Kiew und Brüssel wären dann nur Zuschauer in einem Kampf von zwei Großmächten auf europäischen Boden.