
Kaum ein anderer Satz beschreibt den zeitlosen Zielkonflikt zwischen Geldverdienen und Moral besser als die drei Wörter „Geld stinkt nicht“. Das Bonmot pecunia non olet geht zurück auf den römischen Kaiser Vespasian, der im ersten Jahrhundert nach Christus zur Stärkung der Staatskasse eine Latrinensteuer einführte. Heute stellen sich liberale Demokratien die Frage, wie lange man sich bei Geschäften mit Autokraten und anderen Unrechtsregimen die Nase zuhalten möchte oder sollte. Die EU hat sich in ihren Statuten einer wertebasierten Handelspolitik dazu verpflichtet, die Achtung der Menschenrechte ist ein Grundpfeiler dieser Handlungsmaxime. Doch hält Europa, was es verspricht?
China erklärt den Schwenk nicht allein
Die Wissenschaftler Claudia Marchini und Alexander Popov haben in ihrem Aufsatz „Trading with dictators? A historical review of the EU’s business partners“ die Demokratieprofile der Handelspartner der Europäischen Union seit Mitte der 1980er-Jahre analysiert. Die Studie, die am Dienstag auf der Homepage der Europäischen Zentralbank veröffentlicht wurde, kommt hinsichtlich der Moralfestigkeit zu einem unschmeichelhaften Ergebnis: „Die EU und ihre Mitgliedstaaten machten in den vergangenen 25 Jahren immer häufiger Geschäfte mit autokratisch und diktatorisch regierten Ländern.“
Wahrscheinlich denken viele Menschen bei der Ursachenforschung sofort an China, doch der starke Handel mit Peking erkläre diesen Schwenk nicht allein, so die Autoren. Die vielen Geschäfte mit China hätten zwar eine Rolle gespielt, könnten die ab Ende der 1990er-Jahre beobachtete Umkehr jedoch nicht vollständig erklären. In der Studie gibt es ein griffiges Gedankenspiel, um die Dramatik zu verdeutlichen: Wenn die EU alle Handelsgeschäfte theoretisch nur mit zwei Staaten betreiben würde, könnte man das Ergebnis beispielhaft so zusammenfassen: Die eine Hälfte der Einfuhren in die EU käme aus dem demokratischen Kanada, die andere Hälfte jedoch aus der autokratisch geführten Türkei. Halbe halbe also, zwischen Demokratien und Autokratien. Eine Erklärung könnte statistischer Natur sein: Die Demokratie als Staatsform ist weltweit auf dem Rückzug, man spricht von der „demokratischen Rezession“. Im Jahr 2023 lebten rund 5,7 Milliarden Menschen in geschlossenen Autokratien oder Autokratien mit unfreien Wahlen, in Demokratien waren es etwa 2,4 Milliarden Menschen.
2022 hat die EU so viel mit Diktaturen gehandelt wie vorher noch nie
Die Autoren haben für ihre Untersuchung einen handelsgewichteten Demokratieindex (Democracy-weighted trade index, DWTI) entwickelt. Dies geschah auf Basis der Handelsgeschäfte von 15 „alten“ der nun insgesamt 27 EU-Staaten, weil neuere Mitglieder noch bis Ende der 1980er-Jahre selbst keine Demokratie gewesen waren. Der Indexwert ist zwischen 1985 und den späten 1990er-Jahren erheblich gestiegen, was den breiten Demokratisierungstrend in Osteuropa, Lateinamerika und Ostasien widerspiegelt. Der DWTI-Wert erreichte 1999 auf der Skala zwischen null und eins einen Höchstwert von 0,59.
Zwischen 1999 und 2022 ging der DWTI-Wert der EU-15 jedoch schrittweise um etwa ein Drittel zurück und erreichte im Jahr 2022 einen historischen Tiefstand von 0,41. Diese Entwicklung sei in allen EU-15-Mitgliedstaaten weitgehend ähnlich. Der DWTI-Rückgang stoppte im Jahr 2023, als Folge der EU-Handelssanktionen gegen Russland. „Die EU-15 hat ihre Importe schrittweise zugunsten der weniger demokratischen Länder umgeschichtet, und die Qualität der demokratischen Regierungsführung hat bei den Handelspartnern der EU-15 abgenommen.“
Moralisches Dilemma der EU
Die Autoren sehen den „Handel mit Diktatoren“ kritisch, denn dadurch würde die EU Gewinne für Regimes erwirtschaften, die politisch oft eine expansive und militaristische Agenda verfolgten. Gleichzeitig macht man sich erpressbar, China nutzt seine Dominanz bei der Förderung von seltenen Erden als Druckmittel. Es ergäben sich Zielkonflikte beim Kampf gegen die Klimaerwärmung, so die Studie. Kohlenstoffarme Technologien seien auf eine Reihe von seltenen Erden angewiesen, die in der Regel in Ländern mit autokratischen Herrschaftssystemen vorkämen.
Beispiel Batteriespeicher: Zu ihrer Herstellung werden vier Hauptmetalle benötigt – Kobalt, Kupfer, Lithium und Nickel -, von denen die EU fast keine heimischen Reserven hat. Mit Ausnahme von Kupfer werden alle Metalle auf internationalen Märkten verkauft, vor allem von Ländern mit einer autokratischen Regierung wie China, Russland und der Demokratischen Republik Kongo. Missbräuche bei der Gewinnung dieser Rohstoffe in Form von Gefangenen- und Kinderarbeit sind gut dokumentiert, so die Autoren. Das Dilemma: Entweder die EU verzichtet auf wichtige Importe, oder man verschlechtert unbeabsichtigt die Menschenrechtslage in diesen Staaten.