

Was tun die anderen EU-Staaten, um jene Länder an der Außengrenze zu entlasten, an der besonders viele Migranten ankommen? Und was tun diese Staaten, um tatsächlich Asylverfahren abzuwickeln? Seit zehn Jahren sind das die heikelsten Fragen der europäischen Asylpolitik. Bisher lautet die Antwort in beiden Fällen: viel zu wenig. So kam es zu einer unheilvollen Dynamik. Vor allem Italien und Griechenland ließen Asylbewerber weiterziehen, weil sie nicht auf die Solidarität der anderen zählen konnten. Das Ergebnis ist ein bis heute dysfunktionales Dublin-System.
Mit der großen Asylrechtsreform, die im Juni nächsten Jahres wirksam wird, unternimmt die Europäische Union einen neuen Anlauf, um die Verantwortung der „Frontstaaten“ und die Solidarität der anderen Mitglieder auszubalancieren. Die neue Verordnung für Asyl- und Migrationsmanagement, welche die einst in der irischen Hauptstadt beschlossene und danach benannte Dublin-Verordnung ablöst, sieht zum ersten Mal einen konkreten Solidaritätsmechanismus vor. Demnach müssen die Staaten jeweils für das folgende Jahr konkrete Zusagen für einen „Solidaritätspool“ machen, aus dem sich dann jene Länder bedienen können, die unter besonderem Migrationsdruck stehen.
Was Dobrindt ausgehandelt hat
Das ist nun zum ersten Mal geschehen – und reibungsloser verlaufen, als viele Brüsseler Akteure erwartet hatten. Anfang vergangener Woche haben sich die Innenminister verständigt, an diesem Dienstag soll das vom Rat beschlossen werden. Danach erst wird der Durchführungsbeschluss veröffentlicht, aus dem die genauen nationalen Beiträge hervorgehen. Doch ist das Ergebnis schon in Grundzügen bekannt. Es wird demnach zwar nur wenige Übernahmen von Asylbewerbern geben, zugleich versuchen die Staaten aber reinen Tisch mit Versäumnissen der Vergangenheit zu machen.
In besonderer Weise gilt das für die beiden wichtigsten Ankunftsländer, Italien und Griechenland, auf der einen Seite und Deutschland, das lange Zeit wichtigste Zielland, auf der anderen Seite. Innenminister Alexander Dobrindt hat sich mit seinen beiden Amtskollegen auf ein Quid pro quo verständigt. So wird Deutschland beiden Ländern zunächst keine irregulären Migranten abnehmen, sondern seine eigentlich geschuldete Solidarität mit den sogenannten Dublin-Fällen der Vergangenheit verrechnen: Das sind Personen, die eigentlich in die Ersteinreiseländer hätten zurücküberstellt werden müssen.
In Italien scheiterte das daran, dass die Regierung von Giorgia Meloni kurz nach ihrem Amtsantritt Ende 2022 alle solchen Transfers gestoppt hatte – im Widerspruch zum europäischen Recht. In Griechenland scheiterten Überstellungen an deutschen Gerichten, die dem Land unzureichende Aufnahmestandards bescheinigten. Das betraf sogar Personen, die in dem Land schon Schutz bekommen hatten.
Diese Vereinbarung gilt nach F.A.Z.-Informationen nicht nur für das nächste Jahr, sondern auch für 2027. Sie soll einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. Damit verbunden ist die feste Erwartung, dass Rom und Athen mit dem Start der Asylreform wieder allen Verpflichtungen nachkommen, sowohl zur umfassenden Registrierung als auch zur Rücknahme von Asylbewerbern.
Wann die Solidaritätspflicht aufhört
Das kann künftig nach einem automatisierten Verfahren viel schneller erfolgen als bisher. Die EU-Kommission wird die Praxis im Juli und im Oktober nächsten Jahres überprüfen. Falls ein Land dann immer noch „systemische Mängel“ aufweist, werden alle anderen Staaten von ihrer Solidaritätspflicht entbunden. Andernfalls würde Deutschland für 2028 erstmals eine Solidaritätszusage machen.
Der Ausgleichsmechanismus ist Teil der neuen Verordnung. Die Kommission hat seine Anwendung neben Deutschland auch für Frankreich, die Niederlande und Belgien empfohlen. Sechs weiteren Staaten bescheinigte die Kommission eine „ausgeprägte Migrationslage“, wegen ihrer kumulativen Belastung in mehreren Jahren durch Asylbewerber und ukrainische Kriegsflüchtlinge: Bulgarien, Estland, Kroatien, Österreich, Polen und der Tschechischen Republik. Sie können deshalb von Solidaritätspflichten anderen gegenüber entbunden werden.
Nach Angaben von Diplomaten werden vier Staaten dies voll nutzen, einer zur Hälfte, während Bulgarien darauf verzichtet hat. Ebenfalls entbunden sind jene vier Staaten, die einem besonders hohen akuten Druck unterliegen und in den Genuss der Solidarität kommen: Neben Griechenland und Italien sind das Spanien und Zypern.
Da außerdem Dänemark und Irland von der europäischen Migrationspolitik befreit sind, bleiben nur noch elf weitere Staaten, die zur Solidarität verpflichtet sind. Die meisten von ihnen werden sich dieser Pflicht entledigen, indem sie einen Geldbetrag zahlen: 20.000 Euro pro Person, die sie eigentlich übernehmen müssten. Möglich sind auch Sachleistungen in vergleichbarer Höhe.
Insgesamt wurde der Pool von Übernahmen für 2026 auf 21.000 Personen festgelegt, weil nur gut ein halbes Jahr betroffen ist. Ab 2027 gilt dann die Mindestzahl von 30.000 Migranten oder 600 Millionen Euro. Dass die Staaten diesmal nicht lange feilschten, wird damit erklärt, dass sie ein Interesse am Gelingen der Reform haben und der Migrationsdruck gesunken ist.
Allein Ungarn hat schon bekundet, dass es „keinen einzigen Migranten“ übernehmen werde und gegen die Verordnung klagen wolle. Allerdings könnte es sich bald selbst auf der Anklagebank wiederfinden. Denn die Kommission wird gegen Staaten, die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, Vertragsverletzungsverfahren einleiten. An deren Ende könnte dann ein Urteil stehen, das es erlaubt, den Solidaritätsbeitrag in finanzieller Form mit künftigen Zahlungen an das Land zu verrechnen.
