
taz | Er steht wie ein Monolith in der politischen Landschaft: überragend, mächtig und für manche bedrohlich. Dabei ist sein Inneres leer: der ewige Migrationsdiskurs. Obwohl die Zahl der Asylanträge stetig sinkt – nicht zuletzt auch wegen europarechtlich fragwürdiger Pushbacks an den Außengrenzen –, verliert die Debatte darum kaum an Schlagkraft.
Noch immer stellt die Ein- und Zuwanderung bei Umfragen eines der Top-Themen dar. Auch angesichts der mittlerweile von weiten Teilen der Parteienlandschaft unterstützten restriktiven Abschottungspolitik trauen sich Befürworter:innen einer weltoffenen Gesellschaft derzeit kaum, sich öffentlich zu äußern. Ursula Krechel, Trägerin des diesjährigen Georg-Büchner-Preises, zählt zu den wenigen, die noch diesen Mut beweisen.
Während die neue Rechte die Migrationsströmungen unserer Gegenwart zum singulären Katastrophenfall des 21. Jahrhunderts stilisiert, zeugt der aufklärerische Essay der Autorin, „Vom Herzasthma des Exils“, vom Gegenteil. Indem sie einen historischen Blick auf Vertreibung wirft, erscheinen diese geradezu als Konstanten der Menschheitsgeschichte.
Ungeachtet der aktuellen Rede von den „Massen“ verbirgt sich dabei hinter jedem Abschied und Aufbruch ein individuelles Schicksal. Dieses ruft Krechel ins Gedächtnis. So berichtet sie etwa von Karl Marx, der in England sein Refugium fand, oder von Hilde Domin, die lange kaum von ihrer eigenen Fluchtgeschichte schrieb.
Geschichte wird nicht durch Verordnungen, Maßnahmen, Brandschutzregeln und Bettenkontingente geschrieben
Ursula Krechel
Nur Prominente?, mögen Kritiker fragen. Keineswegs! Abseits einzelner Biografien richtet sich die Aufmerksamkeit der 1947 in Trier geborenen Krechel ebenso auf die großen Auswanderungswellen. Seien es die in Paris als Handlanger und Lumpensammler geendeten Auswanderer aus Hessen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts oder all die nach Amerika Aufgebrochenen, die früher in den überfüllten Hallen von Ellis Island strandeten – die globale Dynamik ist seit jeher universell und häufig mit tiefem Leid verbunden.
Zu den wohl berührendsten Stellen dieses schmalen, von Zivilcourage und moralischer Haltung getragenen Buches zählt daher eine Tabelle zu Hintergründen, Alter und Todesursachen von Flüchtlingen zwischen 1993 und 2018. Sie muss nicht kommentiert werden, sie steht mit ertrunkenen Säuglingen, verhungerten Frauen und Suiziden in Lagern für sich.
Ursula Krechel: „Vom Herzasthma des Exils“. Klett-Cotta, Stuttgart, 2025. 176 Seiten, 18 Euro
Empört über den seelenlosen Westen
Die Autorin macht keinen Hehl aus ihrer Empörung über einen seelenlosen Westen, gerade wenn sie sich im zweiten Teil ihres Textes der aktuellen Gesetzeslage widmet. Bei den bürokratischen Voraussetzungen für Fachkräfteeinwanderung schlägt Krechels mitfühlender Ton in einen, nachvollziehbaren, Zynismus um. „Leute, zahlt Rundfunkgebühren, und ihr werdet Deutsche“, ruft sie jenen satirisch entgegen, die für ihre Aufnahme bei uns zwingend einen Nachweis für ihre Mitfinanzierung des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks erbringen müssen.
Nicht minder ironisch fällt ihre Sprachkritik aus. Begriffe wie „Duldung“ oder „Schübling“, eine Fachvokabel für den Abzuschiebenden, bezeichnet sie als menschenverachtend.
Dass sie diese Abwertungsmechanismen in einen umfassenden zeitlichen Rahmen einordnet, gibt dem Werk die eigentliche Aussagekraft, schlägt Krechel doch immer wieder die Brücke zum Nationalsozialismus. Nur ein Beispiel: Nachdem 1939 die St. Louis, ein von Juden gechartertes Schiff, aufbrach, um die um ihr Leben Fliehenden nach Kuba zu transportieren, wurde ihnen das Anlegen vor der Karibikinsel untersagt. Es folgte eine Irrfahrt entlang der amerikanischen Küste, wo den Passagieren überall die Einreise verwehrt blieb. Der Direktor der kanadischen Einwanderungsbehörde gab bekannt: „None is too many“.
Ähnliche Narrative und Sprüche kennen wir von gegenwärtigen Amtsträgern. Aber, so das Urteil der Essayistin, „Geschichte wird nicht durch Verordnungen, Maßnahmen, Brandschutzregeln und Bettenkontingente geschrieben. Sie ist eine Bewegung, die auch die ergreift, die am bestehenden Regelbestand festhalten […]None is too many. So wünschen viele es sich heute wieder.“ Damit die Parallele zwischen dem Faschismus von damals und von heute jeder und jedem klar wird, bringt es Krechel nochmals direkt auf den Punkt: „Ein Nein zur Migration ist ein Ja zum Rassismus“.
Ein Berg von Fremdheit
Haben wir also nichts gelernt? Nichts gelernt aus dem grausamen Schicksal der Rückkehrer 1945, die in großer Zahl mit Ignoranz gestraft wurden, während man Altnazis erneut in den Staatsdienst aufnahm? Nichts gelernt von all den Fertigkeiten und Fähigkeiten, die Geflüchtete allein durch ihre beschwerliche Expedition ins Unbekannte mitbringen, während wir in ihnen nur Ballast und Probleme wahrnehmen wollen?
Von diesem, wie eine der vielen treffenden Metaphern dieses Buches lautet, „Berg von Fremdheit, den sie [die Immigranten] erklettern müssen und vielleicht erst wieder in der nächsten Generation verlassen können“? „Vom Herzasthma des Exils“ sollte uns Mahnung und Lehrbuch sein, eine uneingeschränkte und emphatische Erinnerung daran, dass wir alle nur eines sind: Menschen.