
Ungläubig blickten die Fans und auch die Schweizer Spielerinnen auf die Bildschirme über dem Feld, als könnten sie erst in der Wiederholung verstehen, was gerade passiert war. Sie sahen, wie Ada Hegerberg nach einer Ecke von Vilde Bøe Risa unmittelbar vor dem Tor in die Luft stieg und den Ball über die Linie köpfte. Es war ein Ausgleich, der sich durch nichts angedeutet hatte. Und der Anfang von dem, was die Schweizerin Géraldine Reuteler nach dem Spiel als „zwölf unglückliche Minuten“ bezeichnen würde.
Dabei hatte der Abend so gut begonnen. Das Wetter bombastisch (35 Grad), das Stadion voll (34.063 Zuschauer) und spätestens, als Beatrice Egli die Schweizer Nationalhymne anstimmte, war auch jede hitzebedingte Trägheit verflogen. Das ganze Stadion stand, sang inbrünstig mit – und leitete von da nahtlos über in „Hopp Schwiiz“ Rufe.
Und die Schweizer Nati nahm die Aufforderung von Minute eins an ernst. Die Spielerinnen gingen mit Tempo und Druck ins Spiel, liefen Bälle ab, bevor sie ihnen überhaupt gefährlich werden konnten. Und stürmten ihrerseits kompromisslos. Zwei Ecken konnten die Schweizerinnen vorweisen, da waren gerade erst fünf Minuten gespielt. Die Norwegerinnen hatten da noch kaum die schweizerische Hälfte betreten.
Der Traumstart in die Heim-EM zum Greifen nah
Sie wirkten etwas überrumpelt, hatten sich vielleicht nach den zwei Siegen, die sie zuletzt in der Nations League gegen die Schweiz errungen hatten, zu sicher gefühlt. Und dabei vergessen, dass beide knapp waren – und dass hier eine Heim-EM eröffnet wurde.
Die Schweizer Fans sorgten dafür, dass das den Norwegerinnen schnell klar wurde. Wann immer deren Fans – ein kaum auszumachender, weil nur minimal dunkelröterer Fleck im knallroten Meer aus Schweizer Trikots – sich mit zaghaften „Norge“-Rufen bemerkbar machten, wurden sie von „Hopp Schwiiz“-Rufen und sogar Kuhglockengeläut übertönt.
Den gefährlichsten norwegischen Angriff in dieser Frühphase, ein Lauf von Kapitänin und Starstürmerin Hegerberg, grätschte Noelle Maritz souverän ab. Auf der anderen Seite spielten sich die Schweizerinnen über Nadine Riesen auf der linken Seite immer wieder in den Sechzehner und probierten es noch dazu selbstbewusst aus der Distanz: erst Kapitänin Lia Wälti, dann Géraldine Reuteler. Deren zweiter Versuch donnerte dermaßen satt an die Latte, dass man es trotz der Aufschreie im ganzen Stadion hören konnte.
Und dann kam die 28. Minute. In einer etwas tumultigen Situation bekam Nadine Riesen im Strafraum quasi ihr eigenes Zuspiel wieder vor den Fuß und zog ab. Der Ball landete am linken Innenpfosten und sprang von da ins Tor.
Spätestens da war das ganze Stadion überzeugt davon, dass der Traumstart in die Heim-EM gelingen würde.
Große Fortschritte, aber nicht „fantastisch“
Dabei hatte im Vorfeld nicht unbedingt viel dafür gesprochen. Acht der letzten neun Spiele hatten die Schweizerinnen nicht gewonnen, der einzige Sieg: ein Testspiel gegen Tschechien. Kurz davor allerdings auch: eine 1:7 Niederlage im Testspiel gegen die U15-Jungs des FC Luzern. Nicht zu vergessen die Nations League Niederlagen. Und dann noch die Debatte um die Trainerin Pia Sundhage.
Sie fordere von den Spielerinnen nach der langen Saison zu viel, hieß es, nehme keine Rücksicht auf Belastungsgrenzen. Außerdem zwinge sie Spielerinnen in eine Formation, in der sie nicht in ihren gewohnten Rollen spielen könnten. Sundhage wiederum sagte über die Schweizerinnen, dass sie zwar große Fortschritte gemacht hätten, aber keine Spielerin „in einer Sache fantastisch“ sei.
Die erste Halbzeit des Eröffnungsspiels wirkte wie ein einziges großes Schwammdrüber.
Die zweite hinterließ Fragezeichen.
Erst das Kopfballtor von Hegerberg. Dann, wieder wie aus dem Nichts, ein langer Ball auf die Norwegerin Caroline Graham Hansen, die ihrer Verteidigerin davonlief und in den Strafraum flankte. Dort warf sich die Schweizerin Julia Stierli in den Ball und schob ihn an der ebenfalls heranrutschenden Torhüterin Livia Peng vorbei ins Tor. Sekundenlang bleibt sie danach auf dem Bauch liegen, drückte das Gesicht in den Rasen.
Vier, nicht die von Reuteler genannten zwölf Minuten, lagen zwischen dem ersten und dem zweiten Treffer der Norwegerinnen. Vielleicht fühlte sich die Tragödie, die sich da abspielte, für sie einfach länger an. Vielleicht zählte sie aber auch ihren persönlichen Tiefpunkt noch dazu. In der 68. Minute versuchte sie, Hegerberg an einem neuerlichen Kopfball zu hindern und kam dabei mit dem ausgestreckten Arm an den Ball. Elfmeter.
Hegerberg verschoss, einen guten halben Meter ging der Ball links am Tor vorbei. Dass im direkten Gegenzug den Schweizerinnen erst ebenfalls ein Elfmeter zugesprochen, dann aber vom VAR wegen einer Fußspitze Abseits zurückgenommen wurde, heizte die Atmosphäre im Stadion weiter an.
Sowieso war die freudig-freundliche Stimmung zunehmend angespannter geworden, weil die Norwegerinnen selbst für Fußballerverhältnisse einigermaßen unverschämt auf Zeit spielten. Wechsel, natürlich fünf an der Zahl, wurden im Schritttempo vollzogen, man nahm sich Zeit, um sich noch mal von den Fans feiern zu lassen, Einwürfe wurden doch noch mal fallen gelassen, Abschläge und Ecken regelrecht zelebriert. Die Schweizer Fans pfiffen, die Spielerinnen und Trainerin Sundhage beschwerten sich. Auch, weil sie merkten, dass es aus eigener Kraft schwer werden würde, das Spiel noch zu drehen.
Schweizerinnen haben noch Chancen aufs Achtelfinale
Die Schweizerinnen hatten zwar weiter Chancen, nicht zuletzt Géraldine Reuteler, die in der 83. Minute frei vorm Tor stehend den Ball über die Latte schaufelte, aber es fehlte die Kraft, die letzte Entschlossenheit, um die Niederlage doch noch abzuwenden.
Und im Nachgang fehlte allen eine plausible Erklärung dafür, wie die Norwegerinnen aus ihren vereinzelten Chancen einen Sieg machen und die Schweizerinnen trotz ihres furiosen Spiels leer ausgehen konnten.
Die Tore für die Norwegerinnen seien unverdient gefallen und sehr ärgerlich, sagte Reuteler. Trainerin Sundhage sprach einfach von einem „ziemlich guten Spiel“, was in ihrer Sprache ein großes Lob ist. Und stimmt. Wenn die Schweizerinnen gegen die Isländerinnen am Sonntag genauso forsch und selbstbewusst aufspielen, dann haben sie noch alle Hoffnung aufs Achtelfinale. Und wenn ihr Eröffnungsspiel den Ton für die EM-setzt, dann wird es eine spannende.
Und die Norwegerinnen? Deren Trainerin Gemma Grainger sagte nur: „Manchmal gibt es eine perfekte Welt, in der man abliefert und gewinnt, manchmal liefert man ab und gewinnt nicht.“ Und ließ die dritte Option ungesagt.