Ermittlungsakten offenbaren brutales Vorgehen der ’Ndrangheta

Wo die kalabrische Mafia bis vor zwei Jahren Salamiwürste und Apfelsinen gelagert haben soll, repariert ein Immobilienhändler jetzt seine Harley-Davidson-Motorräder und seinen roten Maserati. Die Falkenstraße in Fellbach liegt in einem Wohngebiet in der Nähe des S-Bahnhofs. Gut sanierte Reihenhäuser und eine breite Markierung für den Fahrradweg. „Das war das Lager hier, das ist aber schon gut zwei Jahre her“, sagt der Immobilienhändler. „Die sind da mit einem Einsatzkommando rein, wo jetzt das indische Restaurant ist. Damals war es ein Italiener, die haben so 35 Leute abgeführt.“

Seit dem Fall des Pizzawirts Mario L., der sein Restaurant in Stuttgart-Weilimdorf und später auch eines in Winnenden hatte, gilt der Großraum Stuttgart als eine Region in Deutschland, in dem die ’ndrangheta besonders aktiv ist. In der vom Automobilbau geprägten Region leben viele italienischstämmige Einwanderer, und durch den Wohlstand, den Daimler, Bosch und Mahle in die Städte und Dörfer der Region brachten, ließ sich auch mit mittelmäßiger Pasta auskömmlich leben. ­

Andreas Stenger, der Präsident des baden-württembergischen Landeskriminalamtes (LKA), sagt der F.A.Z.: „Das hat stark mit den Rahmenbedingungen und der dortigen Bevölkerungsstruktur zu tun. Dort leben nun einmal viele italienischstämmige Arbeiter und Angestellte mit ihren Familien, es gibt viele Restaurants und italienische Geschäfte, und diejenigen, die im Dienst der ’ndrangheta stehen, wissen natürlich, dass sie in einem solchen Umfeld weniger auffallen. Sie können besser untertauchen.“

Ein deutscher Polizist unter den Verdächtigen

Außerdem schauten die LKA-Fahnder sehr genau hin, wenn es um die Mafia gehe, und ermittelten mit hoher Intensität. „Dadurch wird das Dunkelfeld aus­geleuchtet, und Straftaten, die bislang im Verborgenen stattgefunden haben, werden im Hellfeld sichtbar.“ Aber natürlich gebe es auch in anderen Bundesländern zahlreiche Ermittlungsverfahren gegen die italienische organisierte Kriminalität.

Am vergangenen Dienstag in aller Frühe schlugen die Ermittler wieder in Fellbach zu – und an Dutzenden weiteren ­Orten in Deutschland und Italien. Sie verhafteten 34 mutmaßliche Mafiosi und deren Komplizen. Auch einen Kollegen nahmen die Polizisten fest. Das zeigt, wie gut die Verdächtigen in der Region schon seit Jahren verwurzelt waren. Dem 46 Jahre alten Polizeihauptmeister, der im Rems-Murr-Kreis bei Stuttgart arbeitete, wird vorgeworfen, Ermittlungs­geheimnisse verraten zu haben.

Alte Heimat: Blick über die Weinberge bei Cirò in Kalabrien
Alte Heimat: Blick über die Weinberge bei Cirò in KalabrienRicardo Wiesinger

Als Einziger der Festgenommenen hat er keine italienischen Wurzeln, aber er soll schon lange Kontakte zu den mutmaßlichen Mafiosi gehabt haben. Der Verdacht des Geheimnisverrats habe seit 2021 bestanden, teilten die Ermittler vergangene Woche mit. Daraufhin sei der Beamte intern versetzt worden. „So konnten wir sicherstellen, dass keine weiteren Informationen weitergegeben werden“, sagte der Polizeipräsident von Aalen, Reiner Möller.

Im Fokus des internationalen Ermittlungsverfahrens, das seit Ende 2020 lief und den Decknamen „Operation Boreas“ trägt, stehen die ’ndrangheta-Clans Greco di Cariati und Farao-Marincola – wieder einmal. Es stützt sich unter anderem auf die Aussagen von Kronzeugen, darunter Gaetano Aloe, dessen Vater einst ein wichtiger Boss war. Als er 1987 von Wider­sachern ermordet wurde, trat Sohn Gaetano Aloe in seine Fußstapfen. 2018 wurde er im Rahmen der „Operation Stige“ festgenommen und verurteilt. Im Gefängnis fing er an, mit der italienischen Staatsanwaltschaft zu reden. Über die Geschäfte des Greco-Clans aus Cariati wisse er nicht viel, sagte Aloe aus. „Aber ich kann Ihnen sagen: In Fellbach und Hagen sind die Cariatesi sehr gut aufgestellt.“ So steht es in Ermittlungsunterlagen der Operation, die der F.A.Z. vorliegen.

„Ich hab alle vier Reifen . . . aufgeschlitzt“

In der Falkenstraße in Fellbach, unweit des S-Bahhofs, lagerten die mutmaßlichen Mafiosi Käse, Schinken, Wein, Olivenöl, Tomatenkonserven und alle möglichen anderen Lebensmittel. Zumindest zum Teil sollen die mutmaßlichen Mafiosi die Produkte, darunter auch teure Maschinen zur Pizzaherstellung, von einem Unternehmen in Ungarn sowie Unternehmen in Italien bestellt haben – laut Staatsanwaltschaft unter dem Namen von anderen deutschen Lebensmittel­firmen. Sie ließen sie sich liefern, was die Hersteller im Vertrauen auf die guten Namen der angeblichen Abnehmer auch taten. Zahlten die Rechnungen aber nicht.

Verkauft wurden die Produkte dann an kalabrische Gastwirte im Raum Stuttgart – ob diese wollten oder nicht. Die mutmaßlichen Mafiosi übten laut den Ermittlern Druck aus, erst subtil, dann mit klaren Botschaften. So erhielt etwa im November 2022 der Inhaber eines italienischen Bistros in Leutenbach einen Anruf: „Kannst du Mandarinen brauchen?“ Der Gastwirt antwortete: „Gerade nicht. Wo soll ich die hintun?“ Sein Schwager habe ihm erst zwei Kisten mitgebracht, und die vergammelten auch schon, sagte er laut einer Mitschrift in den Ermittlungsakten, die der F.A.Z. vorliegen. Die Polizei hörte das Telefonat ab.

Neue Heimat: Blick vom Kappelberg bei Fellbach
Neue Heimat: Blick vom Kappelberg bei Fellbachdpa

Der Anrufer blieb hartnäckig. Er erinnerte den Gastwirt an die gemeinsame Heimat: Cariati. Dort würden sie sich sicher wieder treffen, in fünf, sechs Monaten. „Dann wirst du nicht mehr mein Bruder sein“, sagte er. Der Gastwirt bat ihn: „Schick sie mir nicht, schick sie doch weg. Schick sie mir nicht . . .“ Da schien es dem Anrufer zu reichen: „Hör auf deinen Bruder. Ich schicke dir morgen zehn Kisten Mandarinen“, sagte er und beendete das Gespräch: „O.k., ciao.“ Kurz darauf waren die Reifen am Caddy des Gastwirts platt. Die Polizisten hörten ein passendes Telefonat ab: „Ich hab alle vier Reifen . . . aufgeschlitzt“, sagte derjenige, der zuvor versucht hatte, die Mandarinen loszuwerden.

Im Fall eines italienischen Gastwirtehepaars aus Weinstadt sollen die mutmaßlichen Mafiosi nicht nur die Reifen zerstochen, sondern auch die Scheiben von deren Fiat 500 eingeschlagen und in ihrer Wut auch noch weitere Autos auf dem Parkplatz beschädigt haben. „Weil er nichts mehr von uns kauft“, sagte der mutmaßliche Täter später am Telefon.

Mann wegen 12.000 Euro blutig geschlagen

Die deutschen Ermittler werfen den Beschuldigten jetzt unter anderem die Bildung sowie die Unterstützung einer ausländischen kriminellen Vereinigung vor, dazu bandenmäßigen Betrug, Erpressung, erhebliche Gewaltdelikte – und schwere Brandstiftung. Laut den Akten, die der F.A.Z. vorliegen, könnte es dabei um den Brand im Vereinsheim eines Tennisklubs gehen. Im Sommer 2018 wurde dort Feuer gelegt, während das italienische Ehepaar, das die Vereinsgaststätte betrieb, noch in der Küche war. Mit dem Feuerlöscher hatten die beiden keine Chance, erst die Feuerwehr konnte den Brand löschen. Der Schaden betrug mehr als eine halbe Million Euro. Die Ermittlungen gegen unbekannt wurden bald eingestellt.

Während der „Operation Boreas“ stieß die Polizei auf neue Hinweise. Sie hatte das Auto verwanzt, das dem mutmaßlichen Boss des Greco-Clans gehörte. Er war mit zwei weiteren Männern unterwegs, direkt bei dem Tennisklub, wie GPS-Daten laut den Ermittlungen bestätigen. Sie unterhielten sich über die abgebrannte Vereinsgaststätte – und über einen der ihren: „Er sagt, sie hätten es abgefackelt.“ – „Wer?“ – „Giovanni.“ Der Boss fügte hinzu: „Giovanni ist ein bisschen durch­geknallt.“ Die italienischen Ermittler schlussfolgerten: Mutmaßlich gehe es darum, dass besagter Giovanni „eine gewisse Verantwortung“ für den Brand habe. Die deutschen Ermittler wollten sich auf Nachfrage nicht weiter dazu äußern. Nach Informationen der F.A.Z. war am Dienstag aber auch im Restaurant des Mannes ein Spezialeinsatzkommando.

’ndranghetaWarum die kalabrische Mafia so mächtig ist

Bei ihren Razzien in der vergangenen Woche stellte die Polizei auch fünf scharfe Waffen und Munition sicher. Einen Landsmann aus Apulien hatten die mutmaßlichen Mafiosi laut den abgehörten Gesprächen mit dem Tod bedroht – weil sie vermuteten, dass dieser seine Partnerin geschlagen hatte. Die Frau stammte wie sie aus Cariati. „Wenn du es noch mal wagst, eine aus unserem Dorf anzufassen . . . Dann komm ich, André, schneid dir die Eier ab und ess sie vor deinen Augen auf“, drohten sie ihm am Telefon. Auch die Familie des Mannes daheim in Foggia sei dann nicht mehr sicher. Immer wieder verwiesen sie in ihren Anrufen auf ihre Herkunft – und damit, so die italienische Staatsanwaltschaft, auf ihre Zugehörigkeit zu dem ’ndrangheta-Clan von dort: „Vergiss eines nicht, hier in Fellbach . . . Ich sage es dir am Telefon . . . Wir aus Cariati haben Geschichte geschrieben.“

Gab es Auseinandersetzungen unter den Mafiosi selbst, vermittelten die Bosse. Als nach einem Streit zwischen Fußsoldaten des Greco- und des Farao-Marincola-Clans in Kalabrien Schüsse fielen, so steht es in den Akten, wurden die Beteiligten vor „eine Art Ältestenrat“ zitiert. Auch in Deutschland gab es immer wieder Ärger, etwa als ein Mitglied der Farao-Marincola (die im Gefüge der ’ndrangheta über den Greco stehen) in Fellbach vorbeikam. Der Mann, ein Sohn des Bosses „Peppe U Banditu“ und laut den italienischen Ermittlern im Rauschgifthandel im Raum Frankfurt aktiv, übernachtete in einer Wohnung der Männer aus Cariati, zahlte aber nichts. Vor allem unter den Jüngeren sorgte das für Unmut: „Ich habe die ganze Wohnung geputzt . . .“, klagte einer von ihnen. „Alles wegschmeißen, den Boden schrubben, . . . dann habe ich, mit Respekt gesprochen, die Küche, das Bad und das Zimmer geputzt.“ Sie überlegten, den Mann an die Polizei zu verraten, um ihn so loszuwerden, was sie aber schnell wieder verwarfen.

Dass mit dem Sohn von „U Bandito“, der nun ebenfalls unter den Beschuldigten der „Operation Boreas“ ist, nicht zu scherzen war, zeigt eine weitere Episode. So gelang es der Polizei offenbar, auf einem beschlagnahmten Handy Whatsapp-Nachrichten von ihm wiederherzustellen. In einem Video ist laut den Akten zu sehen, wie er einen Mann, der ihm 12.000 Euro schuldete, mit einem metallischen Gegenstand verprügelte. In einem weiteren Video wandte er sich blutverschmiert an den Empfänger: „Ich hab ihn kaltgemacht“, sagte er. „Er ist in Stücken nach Hause gelaufen . . . Schau, wie schön das Blut ist, schau nur. . .“