Anno 1207 vor Christus war im Land Hatti alles noch halbwegs in Ordnung. In diesem Jahr bestieg mit Suppiluliuma II. in der Hauptstadt Hattussa ein neuer Herrscher den Thron. Als Großkönig der Hethiter stand er auf Augenhöhe mit den Herren von Assur und Babylon sowie mit dem Pharao Ägyptens. Diese vier Großmächte, ihre zahlreichen Vasallen und Klientelkönigtümer sowie die Mykener und Minoer weiter westlich verbanden damals enge Handelsbeziehungen. Politisch rivalisierte man miteinander, ließ die Konflikte aber nur selten eskalieren. Die Welt der Spätbronzezeit im östlichen Mittelmeerraum war nicht ohne ihre Krisen, aber eine frühe Form der Globalisierung hielt sie zusammen.
Dann ging diese Welt plötzlich unter. Niemand weiß, was aus Suppiluliuma II. wurde und wer ihm nachfolgte, wenn das überhaupt jemand tat. Hattussa wurde verlassen. Doch nicht nur das Hethiterreich kollabierte. Fast zeitgleich brachen an vielen Orten in der Levante, in Griechenland und der Ägäis politische Ordnungen zusammen. Die Ägypter zogen sich auf ihr Kerngebiet zurück, selbst die Assyrer, die um 1225 v. Chr. herum noch Babylon unterworfen hatten, strauchelten. Die mykenische Palastkultur verschwand von der Bildfläche und mit ihr der Schriftgebrauch in Griechenland. Erst vierhundert Jahre später ist er dort wieder nachweisbar, wenn auch in völlig anderer Form. Dazwischen lag für die Altertumsforscher ein „Dunkles Zeitalter“.
Systemkollaps zog alle in Mitleidenschaft
Es war ein Einschnitt, mindestens so epochal wie der Untergang Roms rund 1600 Jahre später, und wie in diesem Fall beschäftigten die Gelehrten nicht zuletzt zwei Fragen: Was verursachte den Zusammenbruch? Und handelte es sich überhaupt um einen solchen? „Antike Staaten und Zivilisationen brechen nicht zusammen“, befand der israelische Soziologe Shmuel Eisenstadt 1988, „sofern mit ‚Zusammenbruch‘ das komplette Ende dieser politischen Systeme und der zugehörigen zivilisatorischen Kontexte gemeint ist“.
Dem hat Eric Cline 2014 entschieden widersprochen. Da veröffentlichte der eloquente Archäologe von der George Washington University ein Buch mit dem Titel „1177 BC – The Year Civilization Collapsed“. Nun hat er die Fortsetzung vorgelegt. Unter dem Titel „Nach 1177 v. Chr.“ ist sie auf Deutsch erschienen.
Die exakte Jahreszahl ist fraglos provokant. „Das war natürlich etwas Clickbaiting“, gibt Cline in seinen Vorträgen zu. Selbstverständlich habe es sich auch beim Kollaps am Ende der Spätbronzezeit um einen Prozess gehandelt, allerdings einen jähen: „Die Welt im Jahr 1100 vor Christus war eine andere als die um 1200 v. Chr. und die um 1000 v. Chr eine völlig andere“, sagt der Forscher, selbst ein ausgewiesener Experte für die vorderorientalische Spätbronzezeit. Ein Kollaps sei es aber gewesen, ein Systemkollaps der wirtschaftlichen Verbindungen der großen und kleinen Königreiche untereinander, welcher schließlich alle Beteiligten zumindest in Mitleidenschaft zog.
Woher dann das Datum 1177 v. Chr.? Es war einer Chronologie zufolge das achte Regierungsjahr Pharao Ramses’ III., in dem dieser die Abwehr der „Seevölker“ feiert. Dabei handelte es sich um eine Koalition aus fünf namentlich genannten Ethnien, von denen allerdings nur eine – die Philister der Bibel – archäologisch greifbar ist. Seit der Entzifferung der einschlägigen Monumentalinschrift an der Totentempelfestung des dritten Ramses vor mehr als hundert Jahren wird daher diesen Seevölkern die Schuld am Ruin der Spätbronzezeit gegeben. Von irgendwo her seien sie über das Mittelmeer gekommen und über die Zivilisationen im Osten hergefallen. Später schalteten der Zeitgeist und eine neue Aufmerksamkeit für die Gründe hinter Migrationsbewegungen noch andere Ursachen vor: Die Seevölker hätte blanke Not übers Meer getrieben, und dahinter stünden Dürren, letztlich das Klima.
Cline verwarf solche Hypothesenketten schon 2014 als zu simpel angesichts der komplexen und uneindeutigen archäologischen Befunde, auch wenn er in der 2021 erschienenen Neuauflage seines ersten Buches klimatischen Faktoren eine größere Rolle in dem Drama zugesteht. Doch wenn man ihn frage, was denn nun den Kollaps verursacht habe, ob nun Dürren, Nahrungsmittelknappheit, Erdbeben, Seuchen, Migrationsströme oder Invasoren, antworte er: alles davon. Einzelne solcher Stressoren hätte das System sicherlich verkraftet. Aber es kamen eben mehrere zusammen. „Es war ein perfekter Sturm.“
Nun musste Cline mit Widerspruch rechnen. War der Kollaps nicht doch in Wahrheit eine Transformation gewesen? Schließlich gab es eine Zeit danach, mittlerweile nicht mehr „Dunkles Zeitalter“ genannt, sondern „Eisenzeit“, nach einer der Innovationen, denen wir dem Umbruch verdanken – übrigens auch von Cline selbst, der sich in seinem neuen Buch der Frage zuwendet, was nach dem Ende der Spätbronzezeit geschah.
Überblick über die aktuelle archäologische Befundlage
Dabei blickt er auf acht spätbronzezeitliche Staaten oder Kulturen, die um 1200 v. Chr. noch florierten – und darauf, wie es mit ihnen in der Eisenzeit weiterging: Auf Assur, Babylon, Hatti und Ägypten, auf die mykenische Palastkultur, auf Zypern sowie die Kanaaniter im Süden und im Zentrum der Levante. Etwas inkonsequent schlägt er die nördlichen Kanaaniter dem Reich Hatti zu, insofern sie am Ende der Bronzezeit unter hethitischer Oberhoheit standen – dabei erging es beiden sehr unterschiedlich.
Wie, das erfährt der Leser erst im vierten der fünf Kapitel, in denen Cline ihm einen Überblick über die aktuelle archäologische Befundlage in den verschiedenen Kulturräumen verschafft. Denn im Unterschied zum vorangegangenen Buch geht Cline nicht streng chronologisch vor, sondern betrachtet die Schicksale Ägyptens, Mesopotamiens, der Zentrallevante, der Hethiter und der mykenischen Welt getrennt. Diese Kapitel sind trotz ihrer Knappheit fachlich profund und zugleich unterhaltsam geschrieben. Gestört wird der Lesefluss allenfalls von den vielen Namen von Clines Fachkollegen, deren Beiträge er nicht ungewürdigt lassen möchte.
Das alles ist jedoch nur Vorbereitung für das sechste und letzte Kapitel, in dem Cline den verschiedenen Staaten und Kulturen Zensuren erteilt. Anhand einer Skala von Eins bis Fünf bewertet er, wie gut oder schlecht sie sich in dem großen Umbruch geschlagen haben. Die Noten fallen sehr unterschiedlich aus, aber sie zeigen, wo und inwieweit der Begriff des Kollaps gerechtfertigt ist.
Nun ist Eric Cline kein kulturphilosophischer Luftikus, sondern hat für seine Bewertungen nachvollziehbare Kriterien gesucht. Er fand sie in einem Special Report des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) aus dem Jahr 2012, in dem diese wissenschaftliche Beratungsorganisation der Vereinten Nationen das Management von Risiken für Extremereignisse und Desaster angesichts des Klimawandels erörtert. Dort gibt es Definitionen für die Vokabeln „Krisenbewältigung“, „Anpassung“ und „Transformation“, mit denen Cline die aus den archäologischen und philologischen Daten erkennbaren Trajektorien jener acht oder neun Kulturräume beschreibt. Bei dieser Betrachtung kam ein weites Spektrum an Resilienz zutage.
Schwache Performance Ägyptens
Eine Fünf, und damit die schlechteste Note, erhalten die Hethiter und die südlichen Kanaaniter. Sie zeigten im Wüten des bald nach 1200 v. Chr. hereinbrechenden perfekten Sturms keinerlei Resilienz. Sie verschwinden aus der Geschichte oder sie werden von anderen assimiliert, wie es nach Clines Sicht den südlichen Kanaanitern passiert ist.
Die Note Vier erteilt Cline den Mykenern. Auch sie waren nicht resilient, ihr von einer Anzahl höfischer Zentren, den Palästen, geprägtes politisches System verschwindet, aber auf der Ebene der Populationen und mancher kultureller Parameter – die Namen von Gottheiten beispielsweise – gibt es Kontinuität. Vierhundert Jahre später wird daraus das klassische Griechenland entstehen.
Eine Drei bekommen die Ägypter. Das mag überraschen angesichts des erfolgreichen Abwehrkampfes Ramses III. gegen die Seevölker und des Fortbestandes der pharaonischen Kultur. Doch nach Cline war Ägyptens Performance beim Übergang in die Eisenzeit schwach: Man übte sich in bloßer Krisenbewältigung, ohne sich an die neue Zeit anzupassen – und fand nie wieder zu der alten imperialen Größe zurück.
Anders Assur und Babylon, die Cline mit einer Zwei benotet. Mesopotamien erwies sich als resilient, die Katastrophen trafen diese Region nur abgeschwächt, und später in der Eisenzeit dehnten sich von dort wieder neue Imperien nach Westen aus. Ebenfalls eine Zwei bekommen aber auch Kanaaniter der nördlichen Levante. Befreit von der Zentralgewalt in Hattussa finden sie zu eigener Staatlichkeit und führten dort teilweise sogar hethitische Traditionen weiter. Die eisenzeitlichen Staaten Nordsyriens werden daher zuweilen „Neo-Hethiter“ genannt. Ihnen gelang damit nicht nur eine Anpassung des Alten an das Neue, sondern eine Transformation.
Klassenbeste sind Zyprioten und Kanaaniter
Die Klassenbesten aber sind bei Cline zwei Völker, die in der Spätbronzezeit nicht eben Schwergewichte gewesen waren: zum einen die Bewohner der Insel Zypern, die ihren Namen vom Bronzerohstoff Kupfer hat, wo man aber in einer echten Transformationsleistung rasch auf die Eisenverarbeitung umschaltet, und zum anderen die Kanaaniter der zentralen Levante, besser bekannt unter dem Namen, den ihnen die Griechen später gaben: die Phönizier. Sie beginnen bald, den unterbrochenen Seehandel weiterzuführen. Dabei expandieren die Phönizier mit ihrem Netz an Stützpunkten im Westen bis zur iberischen Halbinsel und bringen die neben dem Eisen zweite wichtige Innovation jener Zeit in die Mittelmeerwelt: das Alphabet. „Zyprer und Phönizier waren mehr als nur resilient“, schreibt Cline. Sie seien möglicherweise sogar „antifragil“ gewesen: Woran andere fast oder ganz zerbrachen, gerade das wussten sie für ihre Entwicklung zu nutzen.
Somit kann Eric Cline tatsächlich ein differenziertes Bild von einem Kollaps zeichnen, der zugleich auch eine Transformation war. Denn nicht für alle und alles bedeutete der allgemeine Zusammenbruch auch den eigenen Untergang. Für einige und einiges war es auch ein Neubeginn, ja mehr noch, eine Basis neuer Entwicklungsstufen.
Cline will den Kollaps nicht glorifizieren, zumal ihm natürlich klar ist, dass das Interesse, das seinem Buch „1177 v. Chr.“ entgegenschlug, auch mit der aktuellen Weltlage zu tun hatte. Die Versuchung ist groß, unsere globalisierte und von Machtzentren, die um Einfluss ringen, geprägte Gegenwart mit der Abenddämmerung der Spätbronzezeit zu vergleichen – und unserer Welt das Risiko eines baldigen Zusammenbruchs zu bescheinigen.
Wenn Clines fachlich wie stilistisch stupendes Buch eine Schwäche hat, dann die, dass ihr Autor dieser Versuchung am Ende nicht stärker widersteht und stattdessen Sätze schreibt wie: „Ich vermute mal stark, es wird eher früher als später geschehen – es ist eine Frage des wann, nicht des ob.“ Gerade als Bronzezeitexperte wäre Cline in der Lage gewesen, die enormen Unterschiede zwischen der antiken Welt und unserer Gegenwart zu beleuchten. Dies würde nicht nur naiver Crash-Prophetie die altertumswissenschaftliche Lizenz entziehen, sondern auch nicht minder fragwürdigen Mutmachersprüchen, nach dem Motto „Transformation ist machbar, Herr Nachbar“. Stattdessen aber fragt uns Cline am Ende: „Sind wir Mykener oder sind wir Phönizier?“ Wie erhebend, dass er nicht in Betracht zieht, wir könnten Hethiter sein.
Eric H. Cline: „Nach 1177 v. Chr.“. Wie Zivilisationen überleben. Aus dem Englischen von Jörg Fünding. wbg/Theiss Verlag, Freiburg 2024. 400 S., Abb., geb., 32,– €.