Erhöhung des Mindestlohns: Die fünf größten Irrtümer über den Mindestlohn

Die Mindestlohnkommission hat sich am heutigen
Freitag gegen eine
Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro entschieden und bleibt mit 13,90 Euro für
2026 und 14,60 Euro für 2027 deutlich unter der im
Koalitionsvertrag festgelegten Zielmarke der Bundesregierung. Kaum ein Thema
wird so kontrovers diskutiert.

Schadet ein deutlich höherer Mindestlohn der
deutschen Wirtschaft, treibt er die Inflation oder schwächt er die
Wettbewerbsfähigkeit? Es ist höchste Zeit, mit fünf häufig vorgebrachten Mythen
rund um den Mindestlohn aufzuräumen.

Mythos 1: Ein höherer Mindestlohn gefährdet Arbeitsplätze

Der Mindestlohn schade der Beschäftigung, erhöhe
die Arbeitslosigkeit oder verhindere zumindest die Schaffung neuer
Arbeitsplätze, lautet ein Einwand. Im Wirklichkeit ist er ein Vorwand. Auch wenn es theoretisch plausibel klingt: Höhere Löhne bedeuten, dass einige
Unternehmen ihre Kosten nicht mehr decken können, da sie wiederum keine höheren
Preise durchsetzen können – Arbeitsplätze könnten so verloren gehen. Doch die
Realität in Deutschland seit der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 ist
eine andere: Die Beschäftigung ist stark gewachsen, die Arbeitslosigkeit gleichzeitig in der Gesamtbetrachtung gesunken.

Drei Gründe erklären, warum selbst deutliche
Mindestlohnerhöhungen in den vergangenen zehn Jahren nicht zu einem Anstieg der
Arbeitslosigkeit geführt haben: Erstens konnten manche Unternehmen höhere Löhne zahlen, indem sie einen Teil ihrer zuvor
aufgrund der geringen Löhne höheren Gewinne an die Mitarbeitenden weitergaben. Da im Niedriglohnbereich kaum
Tarifverträge gelten, ist die Verhandlungsmacht der Beschäftigten gering.

Zweitens, und noch wichtiger: Der Mindestlohn hat
zu einer Umverteilung von Beschäftigung geführt, weg von weniger produktiven
hin zu produktiveren Unternehmen, wie eine einflussreiche Studie von Christian Dustmann
und Ko-Autorinnen
 und -Autoren zeigt. Einige Unternehmen konnten den Mindestlohn
nicht zahlen, doch die betroffenen Beschäftigten fanden besser bezahlte Jobs in
anderen Unternehmen.

Drittens haben der Nobelpreisträger David Card und
sein Kollege Alan Krueger schon vor mehr als 30 Jahren am Beispiel der Fast-Food-Industrie in New Jersey nachgewiesen,
dass ein höherer Mindestlohn die Fluktuation senkt, die Mitarbeiterbindung
stärkt und dadurch die Produktivität steigert. Weniger Personalwechsel bedeuten
niedrigere Kosten und höhere Effizienz – ein Gewinn auch für viele Unternehmen.
Zwar lässt sich dies nicht auf alle Branchen übertragen, doch der Mechanismus
ist relevant. 

Der theoretische Einwand, ein höherer Mindestlohn
verhindere zusätzliche Beschäftigung, ist in manchen Fällen empirisch belegt.
Doch Deutschland leidet derzeit unter akutem Arbeitskräftemangel, insbesondere
im Niedriglohnbereich. Gastronomie, Einzelhandel und viele weitere Branchen
suchen händeringend auch nach ungelernten Arbeitskräften. Das Problem ist also ein Mangel an Arbeitskräften. Ein höherer
Mindestlohn könnte den deutschen Arbeitsmarkt attraktiver machen, auch für
Arbeitskräfte aus Zentral- und Osteuropa, wenn die Lohnunterschiede gegenüber
den Herkunftsländern wachsen.

Mythos 2: Der Mindestlohn ist ein schädlicher Eingriff in den Markt

Ein weiterer Mythos lautet, der Mindestlohn sei ein
unzulässiger Eingriff in einen funktionierenden Markt und widerspreche der
Marktwirtschaft. Tatsächlich stärkt der Mindestlohn aber den fairen Wettbewerb
um Arbeitskräfte und fördert Effizienz und Produktivität. Er kompensiert zudem
das Machtungleichgewicht in Branchen, in denen Tarifverträge kaum verbreitet
sind und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kaum Verhandlungsmacht besitzen.

Mythos 3: Der Mindestlohn gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit

Ein häufig genanntes Argument ist, der Mindestlohn
schade der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und führe zur Verlagerung von
Arbeitsplätzen ins Ausland. Auch wenn das theoretisch nachvollziehbar klingt,
zeigt die Praxis ein anderes Bild: Die meisten Jobs im Niedriglohnsektor gibt
es im Dienstleistungsbereich – also etwa in der Gastronomie, im Einzelhandel
oder in der Pflege. Deren Leistungen lassen sich aber gar nicht ins Ausland
verlagern. Zwar verlagerten einige große Industrieunternehmen Produktionskapazitäten
ins Ausland, doch der Mindestlohn war nie ein offiziell genannter Grund –
betroffen von solchen Verlagerungen sind vor allem gut und weit über dem
Mindestlohn bezahlte Arbeitsplätze.

Mythos 4: Der Mindestlohn treibt die Inflation

Ein weiteres Argument gegen den Mindestlohn lautet,
er treibe die Preise und löse eine Lohn-Preis-Spirale aus. In der Tat haben
manche Unternehmen ihre Preise aufgrund gestiegener Lohnkosten erhöht – etwa im
(Lebensmittel-)Einzelhandel oder in der Gastronomie. Doch diese Effekte sind
begrenzt. Der Mindestlohn führt in erster Linie zu einer Umverteilung von
Einkommen, von Besserverdienenden zu Geringverdienenden. Das ist wirtschaftlich
nicht schädlich.

Mythos 5: Die Mindestlohnkommission sollte unabhängig entscheiden – ohne politische Einflussnahme

Ein letzter Mythos betrifft die Rolle der Politik. Die Mindestlohnkommission sei unabhängig, die Politik solle sich heraushalten.
Doch die Realität sieht anders aus. Die Kommission besteht aus jeweils drei
Vertretern und Vertreterinnen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite sowie einer unabhängigen
Vorsitzenden. Diese Interessengegensätze zeigen: Die Kommission ist nicht
völlig unabhängig, sondern stark von sozialen Aushandlungsprozessen geprägt.

Laut Satzung soll sich die Kommission bei der
Festlegung des Mindestlohns „nachlaufend an der Tarifentwicklung“ orientieren.
Gleichzeitig ignoriert sie mit ihrer aktuellen Entscheidung die Vorgabe der EU,
den Mindestlohn bei etwa 60 Prozent des Medianlohns festzulegen – was, je nach
Berechnung, rund 15 Euro pro Stunde entspräche. 

Unter dem Strich lässt sich sagen, dass der
Mindestlohn nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine große soziale
Bedeutung hat. Etwa zehn Millionen Beschäftigte würden direkt oder indirekt von
einem Mindestlohn in Höhe von 15 Euro profitieren. Eine Studie des DIW Berlin zeigt, dass der gestiegene Mindestlohn der
Hauptgrund für das Schrumpfen des Niedriglohnsektors in Deutschland war – und
auch die Zahl der Bürgergeldempfänger ist dadurch ein wenig zurückgegangen.
2015 gab es noch rund 1,3 Millionen sogenannte Aufstocker – also Menschen, die
trotz Arbeit Sozialleistungen bezogen. Bis 2023 sank diese Zahl auf unter
800.000. 2024 ist sie jedoch wieder gestiegen, auch weil der Mindestlohn mit
der Entwicklung der Lebenshaltungskosten nicht Schritt gehalten hat.

Auch deshalb ist die Entscheidung
der Mindestlohnkommission eine verpasste Chance – wirtschaftlich wie sozial.