
Der IQB-Bildungstrend zeigt, dass der Anteil der Neuntklässler, die Mindestanforderungen in Mathematik und Naturwissenschaften nicht erfüllen, in allen Ländern und allen Schularten erheblich gestiegen ist. In Bayern erreichen 65,5 Prozent der Neuntklässler den Regelstandard für die mittlere Reife, in Sachsen sind es 53,2 Prozent, in Schleswig-Holstein 48,1 Prozent, in Hamburg 47,9 und in Baden-Württemberg 45,5 Prozent.
In den drei naturwissenschaftlichen Fächern liegen Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen über dem Durchschnitt. Das liegt auch daran, dass dort etwa 20 Prozent der Mathematiklehrer über 60 Jahre alt sind, also noch zu DDR-Zeiten sehr gut ausgebildet wurden. Möglicherweise wirkt sich der Generationswechsel schon bei der nächsten Erhebung für Mathematik und Naturwissenschaften in der Sekundarstufe 1 aus.
Deutlich geringere Mittelwerte zeigen sich in allen vier Fächern in Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und im Saarland. In Berlin liegen die Mittelwerte in Physik deutlich niedriger als im Bundesdurchschnitt. In Schleswig-Holstein weichen die Ergebnisse in keinem Fach mehr deutlich vom Mittelwert ab.
In Hamburg fällt der Mittelwert in Mathematik deutlich höher aus als in Deutschland insgesamt. Es steht jetzt an vierter Stelle nach Sachsen, Bayern und Baden-Württemberg und konnte auch den Leistungsstand in den Naturwissenschaften halten. Auffallend ist aber, dass die Schere zwischen den migrationsbedingten und sozialen Unterschieden stärker ausgeprägt ist als in anderen Ländern.
Zu den großen Verlierern gehört neben Nordrhein-Westfalen und Hessen auch Niedersachsen, das 2018 noch in keinem Fach signifikante Differenzen von den Mittelwerten verzeichnete, im Jahr 2024 aber mit Ausnahme von Biologie deutlich unter dem Mittelwert liegt.
„Bei allen drei Ländern handelt es sich um lange Zeit untersteuerte Systeme, in denen die Schulaufsicht in den vergangenen Jahren wenig darüber wusste, was eigentlich in den Schulen geschah“, sagt der Ko-Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK, der Kieler Bildungsforscher Olaf Köller. Er hat mit einer Fachkommission im Jahr 2022 eine Expertise für Mathematik in Hessen vorgelegt, die vom damaligen Kultusminister und heutigen Finanzminister Alexander Lorz (CDU) jedoch nie veröffentlicht wurde, weil sie so ungünstig ausfiel. Hamburg dagegen hat die Mathematik-Expertise Köllers aus dem Jahr 2017 ernst genommen.
Das völlig abgestürzte Nordrhein-Westfalen zeigt zum Teil deutlich schlechtere Ergebnisse als Berlin. Das gilt etwa für Leitideen in Mathematik wie Zahl, Messen, Raum und Form. 42,1 Prozent der Neuntklässler erreichen im Bereich Zahl in Nordrhein-Westfalen weder die Mindestanforderungen für den ersten allgemeinbildenden Abschluss (ESA) noch für den Mittleren Schulabschluss (MSA), die Mittlere Reife. In Bremen sind es sogar 48,2 Prozent und im Saarland 38,8 Prozent, gefolgt von Hessen mit 37,8 Prozent. Beim Messen und bei Raum und Form liegt Nordrhein-Westfalen etwa gleichauf mit Berlin.
Sachsen sticht positiv hervor
Wenn so viele Schüler Mindeststandards nicht erreichen, ist auch die Spitze schwach ausgeprägt. Bei allen Leitideen für den Optimalstandard für den MSA in Mathematik sticht Sachsen positiv hervor, aber auch Bayern und Hamburg können sich sehen lassen. Baden-Württemberg profitiert zwar von der Schwäche der anderen, verzeichnet aber deutliche Verbesserungen und hat es geschafft, in allen Fächern über dem Bundesdurchschnitt zu liegen. Den Spitzenwert in den mathematischen Leitideen (Zahl, Messen, Raum und Form, Funktionaler Zusammenhang, Daten und Zufall) erreichen dort zwischen 4,4 und 8,9 Prozent der Schüler.
In anderen Ländern liegt der Anteil der Schüler, die in einer der Leitideen überhaupt den Optimalstandard erreichen, unter einem Prozent. Die Direktorin des IQB, die Bildungsforscherin Petra Stanat, sagte gegenüber der F.A.Z. zu den negativen Ergebnissen: Sie zeigten, „dass es eines Gesamtkonzepts der Qualitätsentwicklung bedarf, das Ziele und klare Verantwortlichkeiten definiert, eine regelmäßige Überprüfung des Erreichten vorsieht und für einen verbindlichen Austausch über die Ergebnisse und geeignete Maßnahmen sorgt“.
In den meisten Ländern seien datengestützte Gesamtkonzepte erst in Ansätzen vorhanden. Die Bildungspolitik allein werde es auch nicht richten können. „Wenn wir wollen, dass sich unsere Kinder und Jugendlichen besser entwickeln, müssen alle viel mehr an einem Strang ziehen, von den Familien über Kitas und Schulen bis hin zu den Lehrkräfteverbänden und den Universitäten, die für die Ausbildung von Lehrkräften zuständig sind.“

Die prozentualen Anteile der Neuntklässler ohne Migrationsgeschichte liegen in Bayern bei 62 Prozent, in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg sowie Thüringen bei mehr als 80 Prozent. In Bremen dagegen nur bei 38,7 Prozent. In fast allen westlichen Ländern hat der Anteil der Schüler mit Migrationsgeschichte in den Jahren 2018 bis 2024 erheblich zugenommen.
In Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen lag der Zuwachs bei zehn Prozent, in Baden-Württemberg sogar bei 13,4 Prozent. Auch wenn Schüler mit Migrationshintergrund noch immer schlechter abschneiden, betrifft der Leistungsabfall alle Schüler.
Deutschkenntnisse sind auch für Mathematik entscheidend
Fünf Prozent der Neuntklässler in Deutschland sind Flüchtlinge. In Bremen sind es zehn Prozent und in Sachsen zwei Prozent. Die meisten von ihnen lebten bei der Befragung schon seit sechs Jahren in Deutschland. Insgesamt schneiden die geflüchteten Schüler sowohl in Mathematik als auch in den Naturwissenschaften schlechter ab als die Jugendlichen der ersten Generation ohne Fluchterfahrung. In Mathematik sind es durchschnittlich 41 Punkte weniger, beim Fachwissen in den naturwissenschaftlichen Fächern liegen die Differenzen zwischen 44 und 54 Punkten. Aufschlussreich ist aber, dass die ukrainischen Flüchtlinge, die zum Teil erst etwa drei Jahre im System sind, deutlich besser abschneiden als Jugendliche aus dem arabischsprachigen Raum.
Köller hebt gegenüber der F.A.Z. hervor, dass Jugendliche der ersten Generation mit Migrationsgeschichte in Mathematik sogar bessere Ergebnisse erzielen als Schüler ohne Zuwanderungshintergrund, wenn sie gut genug Deutsch sprechen. Mit der Fähigkeit, die Bildungssprache zu beherrschen, werden auch andere Nachteile wie die soziale Schwäche des Elternhauses oder dessen Bildungsferne weniger wichtig. Ein Großteil der einwanderungsbezogenen Unterschiede lasse sich deshalb „auf allgemeine Mechanismen der sozialen Ungleichheit“ zurückführen und auf Unterschiede in den Kenntnissen der Unterrichtssprache, heißt es in dem Bericht.
An den Gymnasien wird der Unterricht als störungsärmer, strukturierter, kognitiv aktivierender und konstruktiver wahrgenommen als an den nichtgymnasialen Schulformen. Aber auch die Leistungen an den Gymnasien sind erheblich schwächer geworden. In Mathematik liegen die Gymnasiasten nur noch in Sachsen, Bayern, Baden-Württemberg und Hamburg über dem Mittelwert, in allen anderen Ländern unterschreiten sie den Mittelwert erheblich. Am stärksten in Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und in Hessen.
Lin-Klitzing kritisiert Versäumnisse in Einstellungs- und Ausbildungspolitik
Die Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Susanne Lin-Klitzing, verwies auf die hohe Anzahl der Lehrer ohne ausreichende Lehrbefähigung im System. Darin zeigten sich die „kontinuierlichen Versäumnisse“ in der Einstellungs- und Ausbildungspolitik der Länder. „Gehen sie diesen Weg weiter, steuern wir direkt in eine Bildungskatastrophe.“ Wenn der Staat nicht professionell aus- und weiterbilde, „kann er keine ausreichende Bildung der Schüler mehr gewährleisten“. Allerdings wird im Bildungstrend auch gezeigt, dass Quereinsteiger in der Lehrerschaft häufig in schwachen Klassen eingesetzt werden, sodass die fehlende grundständige Ausbildung nicht der einzige Grund für Defizite sein dürfte.
Offenbar hat sich die sozio-emotionale Lage eines Teils der Jugendlichen ungünstig entwickelt. Andere Studien wie die Copsy-Studie (Corona-und-Psyche-Studie) oder die Cosmo-Untersuchung (Covid-19 Snapshot Monitoring) sowie „Jugend und Corona“ haben belegt, dass emotionale Probleme und Hyperaktivität in den ersten beiden Jahren nach Corona erheblich zugenommen haben. Jeder sechste Jugendliche berichtet von emotionalen Problemen.
Zugleich aber gibt es ein hohes Maß an Zufriedenheit. Über Schulzufriedenheit und gute soziale Einbindung in die eigene Klasse berichten 60 bis 70 Prozent der Schüler. 44 Prozent der Befragten berichten, gerne zur Schule zu gehen und 69 Prozent, mit deren Anforderungen gut zurechtzukommen. Die ungünstige Entwicklung könnte mit den Nachwirkungen der Corona-Pandemie und mit globalen Krisen wie Kriegen, Klimawandel, wirtschaftlicher Unsicherheit und einer Spaltung der Gesellschaft zusammenhängen. „Die Nutzung sozialer Medien geht oft mit Nervosität und Niedergeschlagenheit einher und beeinträchtigt die Aufmerksamkeit“, heißt es im Bildungstrend.