Erdogan inhaftiert Konkurrent: „Für Kooperation mit neuer Bundesregierung ein sehr problematischer Beginn“

Dass Erdogans Konkurrent Imamgolu in U-Haft kommt, alarmiert deutsche Außenpolitiker. Die Union warnt, die Zusammenarbeit mit der Türkei werde „notgedrungen“ auf ein anderes Modell zusteuern. Die Grünen sehen aber einen mächtigen Hebel der EU. Und die AfD fordert eine weitreichende Konsequenz.

Vier Tage nach der Festnahme des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem Imamoglu hat ein Richter am Sonntag Untersuchungshaft für den Politiker wegen Vorwürfen der „Korruption“ angeordnet. Die Entscheidung sei vom Caglayan-Gericht in Istanbul getroffen worden, sagte ein Anwalt Imamoglus. Der Politiker der säkularen Oppositionspartei CHP gilt als aussichtsreichster Konkurrent des regierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bei einer künftigen Wahl. Regulär wird die nächste Präsidentenwahl 2028 stattfinden.

Das Gericht stellte zudem Terrorismus-Anschuldigungen gegen Imamoglu in den Raum: „Obwohl der dringende Verdacht besteht, eine bewaffnete terroristische Organisation zu unterstützen, wird seine Verhaftung in diesem Stadium nicht für notwendig erachtet, da bereits entschieden wurde, dass er wegen Finanzdelikten verhaftet wird.“ Der Bürgermeister hat alle Anschuldigungen zurückgewiesen und äußerte sich am Sonntag auf X kämpferisch: „Hand in Hand werden wir diesen Schlag, diesen schwarzen Fleck auf unserer Demokratie ausmerzen.“ Und: „Ich stehe aufrecht, ich werde mich nicht beugen.“

Imamoglus Festnahme hatte in den vergangenen Tagen die größten Massenproteste gegen die Regierung Erdogan seit den Gezi-Demonstrationen 2013 ausgelöst. Hunderttausende Menschen nahmen an den jüngsten Protesten teil. Die Polizei ging mit Pfefferspray, Tränengas und Wasserwerfern gegen die Demonstranten vor, Hunderte wurden festgenommen.

Trotz der Inhaftierung Imamoglus nahmen viele der 1,7 Millionen CHP-Mitglieder am Sonntag an seiner Nominierung als Präsidentschaftskandidat teil. Der Sender Halk TV zeigte Bilder von Schlangen vor Wahllokalen in Städten wie Istanbul, Ankara, Izmir, Kahramanmaras und Adiyaman. Nicht-Parteimitglieder konnten an symbolischen Stimmzettelboxen in Solidarität mit Imamoglu ihre „Stimme“ abgeben.

Wie sollte Deutschland auf die innenpolitische Unruhe in der Türkei reagieren? Immerhin ist das Land ein wichtiger Nato-Staat, gilt zudem als geschickter Verhandlungspartner im Ukraine-Krieg. Zudem ist es aus EU-Sicht ein Schlüsselstaat bei der Bewältigung der Migration: Kein Land hat mehr Syrien-Flüchtlinge aufgenommen. WELT fragt bei den Fraktionen und Gruppen des Bundestags nach, kurz bevor sich das Parlament am Dienstag in neuer Besetzung konstituiert.

Jürgen Hardt (CDU), außenpolitischer Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, sagt: „Der Zeitpunkt und politische Kontext der Verhaftung lassen vermuten, dass ein politischer Konkurrent Erdogans seiner demokratischen Rechte beraubt werden soll. Deutschland sollte klarmachen, dass Erdogan einen weiteren Schritt Richtung Autokratie gegangen ist und dieser Weg in der Zusammenarbeit nicht akzeptiert werden kann.“ Mit Bezug auf die wahrscheinliche Bildung einer Regierung aus CDU/CSU und SPD sagte Hardt: „Für die zukünftige Kooperation mit einer neuen Bundesregierung wäre das ein sehr problematischer Beginn. Denn gute Beziehungen zur Türkei sind in unserem wirtschaftlichen, gesellschaftspolitischen und sicherheitspolitischen Interesse.“

Hardt betont, dass „Vertrauen und Verlässlichkeit in die Stabilität der Türkei und die Unabhängigkeit ihrer Gerichte“ eine große Rolle für diese Beziehungen spielten. „Dieses Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Nato-Verbündeten Türkei leidet durch die Ein-Mann-Innenpolitik Erdogans. Die deutsch-türkischen Beziehungen müssen notgedrungen immer mehr auf transaktionalen Deals fußen, da es für mehr einfach keinen Ansprechpartner in Ankara gibt.“ Hardt schätzt zudem, dass Erdogans politische Repression sich wirtschaftlich negativ auf die Türkei auswirken werde: „Erneut werden auch die Märkte empfindlich auf die fehlende Rechtssicherheit in der Türkei reagieren, und das bei jetzt schon sehr schwierigen Wirtschaftsdaten der Türkei.“

Die SPD im Bundestag sagt eine Stellungnahme zum Thema mit Verweis auf die am Sonntag weiterlaufenden Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU ab.

Max Lucks, Außenpolitiker der Grünen-Fraktion, fordert klare Konsequenzen für die türkische Regierung. „Deutschland muss Erdogan jetzt spürbar unter Druck setzen. In diesen Tagen kommt es darauf an, ihm zu zeigen, dass Menschenrechte und Demokratie in der Türkei für uns keine Nebensache sind. Das Vertragsverletzungsverfahren beim Europarat sollte mit aller Konsequenz vorangetrieben und eng mit den politischen sowie wirtschaftlichen Beziehungen der EU zur Türkei verknüpft werden.“ Außerdem sollte die Bundesrepublik Lieferungen von Rüstungsgütern in die Türkei sofort stoppen, so Lucks gegenüber WELT.

Gegen die Türkei läuft besagtes Vertragsverletzungsverfahren seit Dezember 2021 wegen der Inhaftierung des Bürgerrechtlers Osman Kavala, der die Gezi-Proteste unterstützt hatte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte 2019 geurteilt, Kavala sei aus politischen Gründen inhaftiert, und seine Freilassung angeordnet. Dem kam die Türkei nicht nach. 2022 wurde Kavala dann zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Am Ende des Verfahrens könnten etwa der Entzug des Stimmrechts der Türkei oder deren Ausschluss aus dem Europarat stehen.

Lucks widerspricht der Einschätzung, dass die EU auf die Türkei angewiesen sei. Erdogans Regierung verbreite dieses „Narrativ“ zwar mit Erfolg. „Doch das Gegenteil ist der Fall: Angesichts der schweren wirtschaftlichen Krise, in die Präsident Erdogan das Land geführt hat, ist die Türkei auf uns angewiesen. Zudem sollte es alarmierend sein, dass ausgerechnet der Kreml das skrupellose Vorgehen gegen die Opposition lobt. Wo immer möglich, müssen wir uns sicherheitspolitisch von der aktuellen türkischen Regierung unabhängig machen.“ Lucks betont zudem: „Die Türkei ist so viel mehr als Präsident Erdogan. Die Türkei besteht auch aus den Menschen, die in diesen Tagen auf die Straße gehen und auf unsere Unterstützung zählen.“

Anders sieht das Stefan Keuter, Fraktionsvize der AfD und deren Obmann im Auswärtigen Ausschuss. „Wir mischen uns grundsätzlich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten ein.“ Er nehme Imamoglus Inhaftierung „aber mit Besorgnis zur Kenntnis. Dieses Vorgehen der türkischen Regierung wirft einmal mehr Fragen zur Rechtsstaatlichkeit und zur politischen Kultur in der Türkei auf.“ Er sei selbst im Mai 2023 als internationaler Wahlbeobachter der OSZE in der Türkei gewesen und habe erlebt, dass Erdogan „in die Stichwahl gezwungen“ wurde. „So sicher im Sattel, wie es international scheint, sitzt Erdogan nicht.“

Für Keuter steht fest: „Die anhaltenden innenpolitischen Spannungen in der Türkei verdeutlichen, dass das Land weder politisch noch kulturell zur Europäischen Union passt. Deshalb fordern wir erneut, dass die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei endgültig beendet und sämtliche Beitrittsperspektiven gestrichen werden. Gleichzeitig muss die deutsche Bundesregierung klarstellen, dass politische Verfolgung kein Mittel demokratischer Auseinandersetzung sein darf.“ Er erwarte von der deutschen Regierung, „dass sie sich nicht wie in der Vergangenheit von Erdogan erpressen lässt und stattdessen eine konsequente Haltung einnimmt“.

Seine Partei fordere eine „Neubewertung“ der Beziehungen zwischen Deutschland und Türkei „insbesondere in den Bereichen Migration, Sicherheitskooperation und wirtschaftliche Zusammenarbeit“, denn: „Die jüngsten Ereignisse unterstreichen die Notwendigkeit, die Abhängigkeit Deutschlands von der Türkei – sei es wirtschaftlich oder in Migrationsfragen – drastisch zu reduzieren.“

Linke-Bundesvorsitzender Jan van Aken – der demnächst im neuen Bundestag sitzen wird – sagt: „Die Bundesregierung muss endlich raus aus der Erpressbarkeit und Ankara deutlich machen, dass es auch ganz reale Konsequenzen haben wird, wenn die Türkei sich immer weiter in Richtung Diktatur bewegt. Ein Autokrat wie Erdogan ist kein verlässlicher Verhandlungspartner, weil er jede Vereinbarung aufkündigt, wenn es ihm in den Kram passt.“ Van Aken fordert einen Stopp von Waffenlieferungen an die Türkei und eine Aufhebung des Verbotes der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in Deutschland und Europa.

Die FDP-Fraktion sowie die BSW-Gruppe im Bundestag schicken auf WELT-Anfrage keine Antwort zum Thema. Beide Parteien werden im neuen Bundestag nicht vertreten sein.

Johannes Wiedemann ist Leitender Redakteur im Ressort Politik Deutschland.

mit AFP/Reuters/dpa