Energiewende: Wie viel Ökostrom braucht Deutschland wirklich?

Lassen wir eine Zahl sprechen: Mit einer halben Milliarde Euro hat der Staat im vergangenen Jahr die Erzeuger von Ökostrom entschädigt – weil sie an sonnen- und windreichen Tagen so oft ihre Anlagen drosseln oder gleich ganz abschalten mussten. Diese hätten sonst das Stromnetz überlastet. Das ist ärgerlich, weil die Ökoenergie ungenutzt bleibt und das den Staat zudem viel Geld kostet. Eine absurde Lage, die zeigt, wie sehr die Energiewende in Schieflage geraten ist.

Kritiker bemängeln, der Ausbau von Netz und Kraftwerken passe hinten und vorne nicht mehr zusammen. In den vergangenen Jahren seien viele Wind- und vor allem Solarparks entstanden, während der Ausbau des Stromnetzes kaum Schritt halten könne. Auch insgesamt sei alles viel zu groß gedacht, die Kosten seien kaum noch zu bewältigen. Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) findet nun, es sei Zeit für einen Kassensturz. Bis zur Sommerpause will sie mit einem Monitoring aufzeigen, ob die Ausbauziele der Regierung noch realistisch sind. 

Wie viel Strom brauchen wir in Zukunft?

Wie viele Windräder, Solarpaneele und Biogasanlagen angemessen sind, hängt davon ab, wie schnell und umfangreich das Land in den nächsten Jahren auf Strom umschaltet. Wie viele Elektroautos und Rechenzentren wird es geben? Wie schnell läuft die heimische Wasserstoffproduktion an? Werden Industriebetriebe ihre Anlagen größtenteils mit Strom oder grünem Wasserstoff laufen lassen? Und können wir unsere energieintensive Zement- oder Stahlindustrie im Land halten? 

Für das Jahr 2030 rechnet die Regierung bislang mit einem Strombedarf von 750 Terawattstunden, für das Jahr 2045, wenn Deutschland klimaneutral sein soll, mit über 1.000 Terawattstunden. Doch eine Reihe von Energieökonomen und auch die großen Energiekonzerne E.on, RWE und EnBW zweifeln zunehmend an dieser Prognose, zu viele Dämpfer habe es unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise gegeben. 

Und tatsächlich ist die Gegenwart weit entfernt von den gesteckten Zielmarken. 15 Millionen Elektroautos sollen 2030 auf den Straßen fahren, derzeit sind es nicht einmal zwei Millionen. Sechs Millionen gewünschte Wärmepumpen im Jahr 2030 stehen gut 1,9 Millionen bislang installierten Geräten gegenüber.

Gregor Zöttl forscht an der Universität Erlangen-Nürnberg zu Energiemärkten. Er geht davon aus, dass die Regierungsziele zwar noch für das entfernte 2045 stimmten (der Bedarf liege dann im Bereich von 900 bis 1.000 Terawattstunden). „Bis 2030 dürfte der Stromverbrauch allerdings nicht so stark steigen, wie es von der Ampelkoalition erwartet worden war.“ Zöttl geht eher von 600 bis 650 Terawattstunden aus und betont, dass aktuell der Verbrauch in Deutschland entgegen den ursprünglichen Erwartungen sogar gesunken sei – auf unter 500 Terawattstunden pro Jahr.

Doch was, wenn die Konjunktur in Kürze wieder anzieht? Leonard Probst vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE rechnet bei anhaltender Wirtschaftsflaute ebenfalls mit einem geringeren Strombedarf im Jahr 2030 (680 Terawattstunden). Er betont jedoch, es sei auch wichtig, beim Ausbau der Infrastruktur einen Puffer einzuplanen. „Eine nicht gedeckte Stromnachfrage ist um Größenordnungen teurer als ein leicht überdimensionierter Kraftwerkspark oder ein überdimensioniertes Übertragungsnetz.“ Dies spiele im Energiesektor aufgrund der langen Planungszeiten eine entscheidende Rolle.

Zukünftige Entwicklungen neuer Technologien könnten zudem sehr schnell zu einem steigenden Strombedarf führen, dessen kurzfristige Bedarfsdeckung entscheidend dafür ist, ob entsprechende Schlüsseltechnologien in Deutschland angesiedelt werden können. Probst verweist auf den Bereich der künstlichen Intelligenz, die einen starken Ausbau entsprechender Rechenzentren erforderlich macht.

Haben wir es mit den Solarparks übertrieben?

Im Jahr 2030 sollen 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen stammen – daran will niemand rütteln. Aber wie viele Windräder und Solarparks sind dafür nötig? Selbst wenn man von einem niedrigeren Strombedarf im Jahr 2030 ausgeht, braucht es jede Menge neuer Wind- und Solarparks, um dieses Etappenziel zu erreichen. Geht es nach den aktuellen Zielen der Bundesregierung, soll 2030 eine Leistung von mindestens 215 Gigawatt an Photovoltaik am Netz sein (aktuell: über 100 Gigawatt), 115 Gigawatt an Windenergie an Land (aktuell: rund 65 Gigawatt) und 30 Gigawatt an Windenergie auf See (aktuell: knapp 10 Gigawatt). Der Ökonom Zöttl hält die Ausbauziele zwar für ambitioniert, „aber angesichts des erwarteten Strombedarfs und des Kohleausstiegs bis 2030 sind sie gut begründet“.

Einige Energieexperten halten es jedoch für kostengünstiger, vorerst die Geschwindigkeit zu drosseln – vor allem beim Ausbau der Windparks auf hoher See, denn die brauchten einen teuren Netzanschluss. Die Agentur Aurora Energy Research kommt in einer Analyse im Auftrag des Energiekonzerns EnBW auf einen Strombedarf von nur knapp über 700 Terawattstunden im Jahr 2045 – wenn man wirtschaftlich günstig plane. Laut den Autoren der Aurora-Studie ließen sich 80 Milliarden Euro einsparen, wenn im Jahr 2045 nicht Windräder mit einer Kapazität von 70 Gigawatt, sondern bloß von 55 Gigawatt vor Deutschlands Küsten stünden (ein Windrad hat eine Leistung von gut 15 Megawatt).

Die Autoren plädieren zudem dafür, die Solarenergie langsamer auszubauen. Die Regierungsziele sehen etwa 400 Gigawatt bis 2045 vor, optimal wären der Studie zufolge 250 Gigawatt. Sie begründen das vor allem mit der heimischen Wasserstofferzeugung. Die sei teurer als der Import. Es sei viel günstiger, Wasserstoff größtenteils zu importieren, als ihn aufwendig mit Ökostrom in Deutschland herzustellen. Daher brauche man künftig auch viel weniger Elektrolyseure, mit denen man Wasserstoff herstellt, als bislang geplant. Dies würde gut 100 Milliarden Euro einsparen.

Wie geht mehr Tempo beim Netzausbau?

Unter dem früheren Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) galt für den Ausbau der Erneuerbaren vor allem ein Leitspruch: Mehr hilft mehr, und zwar je schneller, desto besser. Doch dabei gerieten die Stromnetze zunehmend aus dem Fokus. Deren Ausbau muss jetzt schneller vorangehen, darin sind sich alle einig. Wichtig sind vor allem die Überlandleitungen. Aber braucht es wegen des niedrigeren Strombedarfs auch insgesamt weniger Netzkilometer? Ja, sagt etwa E.on-Chef Leon Birnbaum. Da man weniger Offshore-Windräder benötige, brauche es auch vorerst weniger neue Stromtrassen von Nord nach Süd.

Auch Probst betont, der Bedarf hänge sehr stark von der räumlichen Verteilung von Erzeugern und Verbrauchern ab. In den vergangenen Jahren habe es vor allem einen starken Zubau der Windkraft in Norddeutschland gegeben. „Sollte zukünftig der Zubau hier besser über Deutschland verteilt stattfinden, ist mit einem geringeren Ausbaubedarf der Übertragungsnetze zu rechnen – hier spielen auch die Ausbauziele der Offshore-Windenergie eine entscheidende Rolle.“ 

Ein großer Kostentreiber war in der Vergangenheit die aufwendige Erdverkabelung. Um Protesten gegen „Monstertrassen“ vorzubeugen, entschied die große Koalition 2016, die Kabel unter der Erde zu verbuddeln. Das hat zwar auch jenseits der schöneren Optik Vorteile, beispielsweise sind die Kabel so besser vor Unwetter oder Anschlägen geschützt. Aber Erdkabel sind auch vier- bis achtmal so teuer wie eine oberirdische Leitung – je nachdem wie anspruchsvoll das Gelände ist.

Die Bundesnetzagentur geht davon aus, dass sich 35,3 Milliarden Euro einsparen ließen, würden statt Erdkabeln Freileitungen verlegt. Insgesamt seien für den Ausbau bis 2045 Investitionen in Höhe von rund 320 Milliarden Euro nötig – sollten wie geplant vor allem Erdkabel verlegt werden. Dem will Schwarz-Rot allerdings ein Ende bereiten: Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, künftig auf die günstigeren oberirdischen Leitungen zu setzen. Davon profitieren die Stromkunden, denn die Kosten für den Netzausbau werden über die Netzentgelte auf alle Stromkunden umgelegt.

Können Batteriespeicher die Dunkelflaute überbrücken?

Große Batterieparks spielen in Zukunft eine wichtige Rolle für die Versorgungssicherheit und die Netzstabilität. Sie fungieren als Puffer zwischen Wind- und Solarparks und dem Netz. Die Speicher laden auf, wenn es viel Ökostrom gibt, und nehmen so den Netzen Last ab. Wenn bei Wind und Sonne gerade nichts zu holen ist, geben sie die Energie ab.

Aber werden die Speicher künftig eine mehrere Tage andauernde Dunkelflaute überbrücken können? So wie es Gaskraftwerke tun? Auch davon hängt ab, wie viele Speicherparks und Netzanschlüsse Deutschland künftig braucht – und wie viele Gaskraftwerke (beziehungsweise solche, die später einmal mit Wasserstoff laufen) dann überhaupt benötigt werden. Wirtschaftsministerin Reiche hat kürzlich angekündigt, 20 Gigawatt neuer Gaskraftwerke bauen zu lassen. Kritiker halten das für zu hoch gegriffen und vermissen den Hinweis, dass auch Batteriespeicher eine wichtige Rolle bei der Energiesicherheit spielen könnten. 

Der Ökonom Zöttl ist skeptisch: Die starke Unterversorgung in den Herbstmonaten und die Überversorgung im Frühsommer sei eine zentrale Herausforderung bei der Stromversorgung, wenn diese weitgehend auf Wind- und Solarstrom basiert. Elektrische Batteriespeicher seien für diese langfristige Speicherung sehr teuer und deshalb wirtschaftlich wenig praktikabel. Infrage kämen hier also nur flexible Produktionsanlagen, etwa Wasserstoffturbinen oder Gasturbinen. 

Auch die Autoren der Aurora-Studie halten den angedachten Ausbau der Batteriespeicher für „sehr ambitioniert“. Sie seien „nur bedingt für die Bereitstellung von Kapazität über längere Zeiträume geeignet“, also zur Überbrückung einer Dunkelflaute. Gas- und Wasserstoffkraftwerke erfüllten diese Aufgabe kosteneffizienter und flexibler. Die Ausbauziele könnten demnach um die Hälfte gekappt werden, das würde 80 Milliarden Euro einsparen.

Besser heimischer Wasserstoff oder lieber Importe?

Der Strombedarf der Zukunft hängt stark davon ab, wie viel Wasserstoff Deutschland in Zukunft selbst herstellen will. Die Ampelregierung hatte das Ziel für heimische Elektrolysekapazität im Jahr 2030 von fünf Gigawatt auf zehn Gigawatt erhöht. Realisiert sind davon aber bislang nur knapp über 100 Megawatt. „Wasserstoff und Derivate sind entscheidend für das Erreichen der Klimaschutzziele“, sagt Zöttl, der Bedarf sei hoch, aber der Wasserstoffhochlauf werde dem bisher nicht gerecht.

Doch wie viel Wasserstoff müsste importiert werden? Deutschland soll fast die Hälfte seines Bedarfs an Wasserstoff selbst herstellen, lautet das aktuelle Regierungsziel. Zu viel, finden etwa die Autoren der Aurora-Studie, importierter grüner Wasserstoff sei günstiger als heimisch erzeugter, heißt es darin. Und der für die Erzeugung notwendige Ökostrom sei an anderer Stelle besser eingesetzt.

Auch Probst sagt, ein Import könne kostengünstiger als die inländische Erzeugung sein, allerdings mit einer entsprechend hohen Abhängigkeit gegenüber internationalen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen.

Darauf fokussiert sich auch eine aktuelle Studie, an der unter anderem die TU München beteiligt war. Darin kommen die Autoren zu dem Schluss, dass Importe von grünem Wasserstoff aus Afrika viel teurer werden als gedacht. Von über 10.000 analysierten Standorten in 31 afrikanischen Staaten könnten nur rund 200 bis 2030 wettbewerbsfähige Preise erzielen. Die Autoren gehen von einem Transport per Schiff nach Rotterdam aus und haben neben der Transport- und Lagerungsinfrastruktur auch Faktoren wie Rechtssicherheit und die politische Stabilität in dem Land berücksichtigt.

„Die gängigen Modelle für Grüner-Wasserstoff-Anlagen nutzen meist pauschale Finanzierungskosten. Die Bedingungen für Investitionen sind aber in jedem Land unterschiedlich und in vielen afrikanischen Ländern besonders risikoreich“, sagt einer der Studienautoren, Florian Egli.

Zu rechnen sei mit einem Mindestpreis von knapp fünf Euro pro Kilogramm Wasserstoff. Selbst bei optimalen Rahmenbedingungen mit europäischen Preis- und Abnahmegarantien sowie niedrigem Zinsniveau lägen die Kosten bei gut drei Euro pro Kilogramm. Zum Vergleich: Bei der ersten Auktion der Europäischen Wasserstoffbank, die im April 2024 Subventionen für grüne Wasserstoffprojekte in Europa vergab, lag der niedrigste Preis eines erfolgreichen Gebots unter drei Euro pro Kilogramm. Schon einmal hat sich Deutschland in eine ungünstige Abhängigkeit begeben – mit sehr hohen Erdgasimporten aus Russland. Schwarz-Rot dürfte viel daran gelegen sein, dass das nicht noch einmal passiert.