Das war die Auflösung eines der spannendsten und intensivsten Momente, die es über alle Sportarten hinweg gibt – auf der größten Bühne, die Baseball zu bieten hat: World Series, Los Angeles Dodgers gegen New York Yankees. Insgesamt 90.000 Einzel-Momente hatten beide Vereine jeweils in dieser Saison geschafft, und nun spitzte sich die erste Partie der Finalserie am Freitagabend auf diesen Augenblick zu. Die Yankees führten in der Verlängerung mit 3:2, die Situation war so: Alle Laufmale waren besetzt; sollte Dodgers-Schlagmann Freddie Freeman kein Treffer gelingen, würden die Yankees gewinnen. Sollte er treffen, würde sein Kollege am dritten Mal für den Ausgleich und damit für die Fortsetzung der Partie sorgen. Sollte er den Ball jedoch auf die Tribüne schicken, wäre das Spiel sofort vorbei – Sieg Dodgers.
Yankees-Pitcher Nestor Cortes warf, Freeman schwang – Boom! Der Ball segelte knapp 130 Meter zu den Dodgers-Fans auf der anderen Seite des Stadions, LA gewann 6:3. Es war der erste Walk-Off-Grand-Slam-Homerun in der 121-jährigen World-Series-Geschichte.
In Spiel zwei am Samstag gab es exakt die gleiche Ausgangslage – nur andersherum: 4:2 für die Dodgers im letzten Abschnitt. Alle Laufmale besetzt für die Yankees. Dodgers-Pitcher Alex Vesia warf, niemand traf – Sieg Dodgers.
Es waren zwei grandiose Baseballspiele, und damit ist der Ton gesetzt für eine Finalserie, die ohnehin schon für größtmögliche Aufregung sorgt in den USA.
Dodgers gegen Yankees: Zum zwölften Mal spielen die beiden legendären Vereine in der World Series gegeneinander; zum ersten Mal seit 43 Jahren. Am Freitagabend begann die Best-of-seven-Finalserie im größten Baseballstadion der USA auf einem Hügel im Stadtzentrum von Los Angeles, auf dem Ticket-Zweitmarkt wurden mindestens 1326 Dollar für eine Eintrittskarte für das erste Spiel ausgerufen. Das ist Taylor-Swift-Niveau, die aber popkulturelle wie musikalisch nichts zu melden hat bei diesem Duell. In den Vorberichten liefen nur zwei Lieder in Dauerschleife: „Empire State of Mind“, die Liebeserklärung von Alicia Keys und Jay-Z an den Beton-Dschungel an der Ostküste, in dem es nichts geben soll, was man nicht tun kann – und die West-Coast-Hymne „California Love“ auf das leichte Leben am Pazifik.
Dodgers gegen Yankees ist heißt auch: Los Angeles gegen New York. Der unvergessene Essay „Wear Sunscreen“ von Mary Schmich enthält ein paar wunderbare Hinweise wie zum Beispiel, dass man nie so dick sei, wie man denke. Oder dass Sich-Sorgen-Machen so nützlich sei, wie es effektiv sei, eine Algebra-Gleichung durch Kaugummikauen zu lösen. An zwei Orten müsse man unbedingt gelebt haben, schreibt Schmich: in New York City – aber von dort abhauen, bevor es einen hat hartherzig werden lassen. Und in Kalifornien – aber weg, bevor es einen verweichlicht hat.
Ja, so vermarkten sie diese Serie, und man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Es sind zwei Vereine, die ihren Spielern heuer insgesamt 560 Millionen Dollar an Gehältern zahlen, die Fans aber sollen bitteschön sentimental werden, ihre Mützen mit „NY“ oder „LA“ darauf anziehen und bis zu sieben Mal für ein paar Stunden vergessen, dass es noch etwas anderes gibt auf der Welt als Baseball.
Woran sie stattdessen denken sollen: Welche Werfer sollen bei maximal sieben Spielen innerhalb von nur neun Tagen wann und wie lange eingesetzt werden? Faustregel: Ein Pitcher, der während einer Partie 51 bis 80 Mal wirft, braucht drei Tage Pause. 80 bis 100 Würfe: vier Tage. Mehr als 100: fünf Tage.
Yankees-Werfer Gerrit Cole ist der zweifelsfrei beste Treffer- und Punkte-Verhinderer dieser Finalserie. Er ließ in Spiel eins nur einen Dodgers-Run zu, wurde nach 88 Würfen jedoch ausgewechselt, weil er so womöglich zur vierten Partie am Dienstag wieder von Beginn spielen kann. Yankees-Trainer Aaron Boone brachte nun seine Kurzarbeiter. In der Verlängerung ließ er Cortes – der davor fünfeinhalb Wochen lange nicht gespielt hatte – statt des formstarken Tim Hill gegen Ohtani und Freeman antreten. Das Ergebnis: das Boom, das sie vermutlich auch im 5000 Kilometer entfernten New York gehört haben.
Das Duell ist sportlich wie gesellschaftlich relevant – es hat einigende Kraft
Eine Entscheidung, über die sie im Big Apple debattieren wie in LA, ob der Freeman-Schlag noch legendärer sei als jener von Kirk Gibson im ersten Spiel der World Series 1988: gleiche Uhrzeit (20.38 Uhr), gleicher Tribünenblock (306), gleiches Ergebnis. „Ich habe es gespürt“, sagte Gibson, der das Spiel auf seiner Ranch in Michigan von der Verlängerung an auf seinem Handy verfolgt hatte.
In Spiel zwei am Samstag für die Yankees: Carlos Rodón, zweitbester Treffer- und Punkte-Verhinderer dieser Finalserie. Der jedoch ließ vier Runs zu und wurde nach nur 63 Würfen ausgewechselt. Dodgers-Trainer Dave Roberts ließ sein Wurf-Ass Yoshinubi Yamamoto 86 Mal werfen – in der Gewissheit, dass sie ihn vielleicht gar nicht mehr brauchen werden in der World Series, sollten die Dodgers die Partien am Montag und Dienstag in New York gewinnen. Bei den Yankees dagegen überlegen sie: Kann denn irgendeiner unserer Werfer gegen diese Dodgers-Schläger bestehen?
Das sind die sportlichen Überlegungen vor der Reise nach New York. Die gesellschaftlichen lauten so: Diese Finalserie wird eben wegen der Überhöhung der Rivalität und dem damit verbundenen Schwelgen in Erinnerungen (kürzlich verstarb die mexikanische Dodgers-Legende Fernando Valenzuela, Symbolfigur für alle Hispanics in LA) zum einzigen gemeinsamen Nenner für die Amerikaner in den zwei Wochen vor der schicksalhaften Präsidentschaftswahl. Auf nichts können sich die Leute in diesem Land einigen, außer auf das: Mitte des siebten Abschnitts einer Baseballpartie stehen alle, wirklich alle auf und singen gemeinsam das wunderbare Lied „Take Me Out to the Ball Game“. Die schönste Textzeile, und es könnte keine bessere Beschreibung geben für den Zustand dieses Landes, weil er eine tiefe Sehnsucht enthält: „Kauf mir ein paar Nüsschen und Popcorn; es wäre mir egal, müsste ich nie wieder (ins Leben außerhalb von Baseball) zurück.“