
Herr Präsident, Sie sind am Freitag Ehrengast beim Festakt zur deutschen Einheit in Saarbrücken. Vor 35 Jahren befürchtete Frankreich, dass Deutschland zu mächtig werden könnte. Heute fragen sich viele in Deutschland, ob Frankreich auch in Zukunft ein solider Partner bleiben wird. Was antworten Sie ihnen?
Ich habe Deutschland immer als ein befreundetes Land und einen Partner gesehen und stets versucht, Brücken zu bauen. Das gilt auch für Bundeskanzler Merz. Wir stehen vor gemeinsamen Herausforderungen wie dem Erstarken der extremen Rechten. Unser Wachstum ist solide, aber wir haben das Thema der öffentlichen Finanzen noch nicht gelöst. Seit ich Präsident bin, ist die französische Wirtschaft um zehn Prozent gewachsen, Italien nur um 7,8 Prozent und Deutschland um 3,44 Prozent.
Man sollte mit solchen Äußerungen vorsichtig sein. Frankreich ist ein solides Land mit einer starken Bonität, das sehr gute Steuereinnahmen erzielt und über eine Infrastruktur verfügt, in die in den letzten Jahren viel mehr investiert wurde als in Deutschland. Wir verfügen über Wachstumsmotoren wie Start-ups, die zweifellos die stärksten in Kontinentaleuropa sind. Allerdings ist unser Sozialmodell weniger gut verwaltet als in Deutschland. Sie haben vor 25 Jahren eine Reformagenda beschlossen. Wir haben 2017 den Arbeitsmarkt gelockert und mit der Reform der Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung begonnen, die nach wie vor umstritten sind. Wir haben ein kostspieligeres Sozialsystem, eine komplexere Verwaltung und mehr Beamte pro Kopf als Sie.
Besteht da nicht hinreichend Grund zur Sorge?
Man muss akzeptieren, dass es Zyklen gibt. Wir haben es geschafft, vor der Pandemie unsere Schulden abzubauen, uns zu modernisieren und einen Aufschwung zu erreichen. Wir haben die Covid-19-Krise gemeinsam besser bewältigt als etwa die Finanzkrise 2008, sowohl auf deutsch-französischer als auch auf europäischer Ebene. Frankreich hat seine Bürger und Unternehmen stärker vor der Inflation geschützt als Deutschland. Das hat uns viel gekostet. Wir haben die Auswirkungen des Abschwungs in Europa nach dem Höhepunkt der Inflation unterschätzt. Jetzt sind wir gezwungen, den Anstieg der Ausgaben zu bremsen. Die Debatten über Steuern sind legitim. Ich möchte hier versichern, dass Frankreich weiterhin über sehr solide wirtschaftliche Grundlagen verfügt.

Die politische Instabilität gibt jedoch Anlass zur Beunruhigung.
Wir lernen gerade, was Sie besser kennen als wir: Koalitionen zu bilden und zwischen den parlamentarischen Kräften zu verhandeln. Manchmal geht Frankreich schneller voran. Während meiner ersten Amtszeit hat alles gepasst, weil wir eine absolute Mehrheit hatten. Derzeit brauchen wir länger als Sie, um uns zu einigen, weil Kompromisse lange nicht Teil unserer politischen Kultur waren.
Die Extreme haben in Frankreich stark zugelegt.
Man sagt mir oft, dass dies meine Schuld sei. Aber diese Dreiteilung der politischen Landschaft gibt es überall in Europa. Sie haben eine mehr oder weniger starke radikale Linke, wie Die Linke oder andere Bewegungen, einen Mitte-Block im weitesten Sinne und einen dritten Block der extremen Rechten, der überall auf dem Vormarsch ist, auch in Deutschland. Wenn der Block der Mitte von der gemäßigten Linken bis zur gemäßigten Rechten das Land voranbringen will, muss man sich einigen. Genau das geschieht derzeit. Im französischen System ist dies nur weniger selbstverständlich. Die Deutschen, die dies lesen, können also beruhigt sein.
Warum legen Sie so viel Wert auf die Beziehung zu Deutschland?
Die deutsch-französische Partnerschaft ist eine schöne Geschichte, weil sie nichts Selbstverständliches ist. Diejenigen, die glauben, dass sie Routine ist, irren sich. Es sind keine tiefgreifenden Kräfte, die uns verbinden. Diese Partnerschaft muss ständig neu erfunden werden. Ich glaube fest an die europäische Idee, an das Projekt des Friedens, des Wohlstands und der Demokratie auf unserem Kontinent. Ich denke, dass es auf der deutsch-französischen Beziehung gründet.
Wie hat sich Ihre Beziehung zu Bundeskanzler Merz entwickelt?
Ich habe Friedrich Merz gleich nach seiner Wahl vorgeschlagen, eine neue Methode auszuprobieren. Im Gegensatz zu dem, was wir bisher immer getan hatten, haben wir nicht auf die Koalitionsverhandlungen gewartet. Obwohl ich Deutschland schon immer besondere Aufmerksamkeit geschenkt habe, was etwa der Vertrag von Aachen und der für mich sehr beeindruckende Staatsbesuch im vorigen Jahr zeigten, habe ich dazugelernt. Als Bundeskanzler Merz am 7. Mai zum ersten Mal nach Paris kam, konnten wir sofort ein Papier zur Wiederbelebung der Beziehung vorlegen, da wir bereits mit der Arbeit begonnen hatten. Die geopolitischen Gefahren erfordern dies. Uns verbindet zudem eine ähnliche Kultur, da Bundeskanzler Merz auch aus der Privatwirtschaft kommt. Er hegt eine tiefe Freundschaft für Frankreich und möchte, dass wir erfolgreich sind.

Das Thema Kernenergie hat die Beziehungen lange Zeit vergiftet. Ist das nun wirklich vorbei?
Ja, davon bin ich überzeugt. Das liegt auch im europäischen Interesse. Wir haben unterschiedliche Energiemodelle. So haben wir Europa aufgebaut. Dennoch werden wir die Herausforderungen der Dekarbonisierung, der Wettbewerbsfähigkeit und der Souveränität ohne Kernenergie niemals bewältigen können. Wenn wir gemeinsam unsere umweltschädlichen Kohlekraftwerke schließen und auf importiertes Gas verzichten wollen, brauchen wir ein europäisches Modell, das auf drei Säulen basiert. Die erste Säule ist die Energieeinsparung, die zweite sind erneuerbare Energien. Das Problem ist, dass Erneuerbare nur zeitweise verfügbar sind und wir eine Ergänzung benötigen, die Kernenergie. Das Glück Deutschlands und Europas besteht darin, dass Frankreich CO2-freie Energie produziert. Im vergangenen Jahr haben wir viel nach Deutschland exportiert. Deutschland verhält sich in Bezug auf die Kernenergie wie Monsieur Jourdain in Molières Komödie „Der Bürger als Edelmann“: Sie verbrauchen bereits jedes Jahr viel davon.
Diese wichtigen Projekte entsprechen strategischen Erfordernissen, die wir 2017 mit Bundeskanzlerin Merkel identifiziert hatten. Werden sie durch die geopolitische Entwicklung hinfällig? Nein, im Gegenteil. Wir wussten von Anfang an, dass es sehr schwierig werden würde, da konkurrierende Rüstungsunternehmen für ein Projekt zwangsverheiratet wurden. Viele Abgeordnete, im Bundestag noch mehr als in der Nationalversammlung, fragen sich ständig: Sind die Jobs in meinem Wahlkreis gesichert? Die Rüstungsunternehmen auf beiden Seiten beanspruchen die Führungsrolle für sich. Es ist an uns, weiter an Lösungen zu arbeiten und den Kurs zu halten, der im übergeordneten deutsch-französischen Interesse liegt. Der Bundeskanzler und ich haben unsere Verteidigungsminister gebeten, bis Jahresende die Projekte zu überprüfen. Ohne uns von den Kommentaren der einen oder anderen Seite beirren zu lassen, werden wir auf dieser Grundlage entscheiden.
Ihr politischer Wille bleibt also unverändert?
Das Wichtigste ist, dass wir weiter aufrüsten und die europäische Verteidigung stärken. Ich bin für eine maximale Integration, weil wir mehr produzieren müssen, und zwar auf europäischer Ebene. Ich möchte unsere deutschen Freunde davon überzeugen, mehr europäische Produkte zu kaufen. Wir haben Industrieunternehmen, die angesichts der Fülle an öffentlichen Geldern viele ihrer früheren Gewohnheiten beibehalten haben. Sie müssen jedoch bereit sein, stärker als Europäer zusammenzuarbeiten, schneller zu produzieren und innovativer zu sein. Denn ich stelle fest, dass viele auf internationaler Ebene dazu in der Lage sind.
Wir sind dabei, uns zu wappnen. Aber lange Zeit haben wir Russland unterschätzt. Russland ist zwar wirtschaftlich viel schwächer als Europa, seine Bevölkerung schrumpft, und die Industrie ist nicht innovativ. Aber sie produziert viel mehr Waffen, und das auch noch schneller. Wir haben die Bedrohung unterschätzt. Man wechselt nicht mehr über Nacht vom Friedenszustand in den Kriegszustand. Wir befinden uns dauerhaft in einer Konfrontation. Neben dem Terrorismus ist Russland die größte strukturelle Bedrohung für die Europäer. Es gefährdet unsere kollektive Sicherheit durch Eingriffe in unseren Wahlkampf, Cyberattacken, die Ermordung von Oppositionellen und durch Migrationsströme, die als Druckmittel eingesetzt werden. Russland testet unsere Luftabwehr und hat seine Nukleardoktrin geändert. Es wird unterschätzt, wie sehr die Russen unsere öffentliche Meinung durch die Verbreitung von Unwahrheiten beeinflussen, bis hin zu den Geschichten über eine Bettwanzenplage in Frankreich. Unsere offenen Gesellschaften sind anfällig für Informationskriege. Wir sind naiv, wenn wir verkennen, dass sich die russische Geheimarmee in unseren Demokratien ausbreitet. Sie besteht aus diesen kleinen, gesichtslosen Kriegern, die man digitale Bots nennt. Sie manipulieren die Demokratie in Frankreich, Deutschland und Europa.

Sind Sie dafür, ein russisches Kampfflugzeug abzuschießen, wenn es ohne Genehmigung in den europäischen Luftraum eindringt?
Gemäß der Doktrin der strategischen Ambiguität kann ich Ihnen sagen, dass nichts ausgeschlossen ist. Russland ist ohne Vorwarnung in die Ukraine einmarschiert. Die Ukraine hat Widerstand geleistet. Aber bereits im Frühjahr 2022 haben unsere amerikanischen Partner erklärt, dass sie keine Soldaten entsenden werden. Wir haben Moskau immer wieder gesagt, was wir nicht tun werden. Das ist ein Zeichen von Schwäche. Wir müssen Putin in Unsicherheit wiegen. Und wir müssen unsere Abhängigkeit, insbesondere von den Amerikanern, verringern.
Sollten die Sanktionen gegen Russland verschärft und in der EU mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden?
Wir arbeiten am 19. Sanktionspaket. Die Sanktionen funktionieren viel besser, als man sagt. Damit die Sanktionen noch wirksamer werden, müssen wir uns auf die Schattenflotte konzentrieren. Die deutlichen Signale aus Amerika sind hilfreich. Wir sollten gegen diese etwa 800 aktiven Schiffe vorgehen, die Sanktionen umgehen. Viele der Unternehmen wurden sanktioniert, aber es bedarf einer wirksamen Kontrolle. Wir sollten uns alle zusammenschließen, um diese Schiffe zu kontrollieren, sie zu blockieren und die Kosten für die russische Wirtschaft zu erhöhen. Wir sollten auch die kurzfristige Hilfe für die ukrainische Armee beschleunigen.
Bundeskanzler Merz schlägt vor, die eingefrorenen russischen Milliarden zur Unterstützung der Ukraine zu verwenden. Fast 140 Milliarden Euro könnten mobilisiert werden. Waren Sie von diesem Kurswechsel überrascht?
Nein. Zunächst einmal hat Bundeskanzler Merz die Arbeit der Kommission unterstützt. Den Vorschlag hat Ursula von der Leyen vorbereitet. Der Bundeskanzler und ich legen großen Wert auf die Glaubwürdigkeit Europas. Im Rahmen dieses Vorschlags wird europäischen Rüstungsgütern der Vorzug gegeben. Die eingefrorenen russischen Vermögenswerte können nicht einfach beschlagnahmt werden, da dies gegen das Völkerrecht verstoßen würde. Sie sollen jedoch als Sicherheit dienen, um unsere langfristige Unterstützung für die Ukraine mit einer Garantie des europäischen Haushalts und nationalen Garantien sichtbar zu machen. Im Grunde bedeutet dies, dass Deutschland bereit ist, sich gemeinsam für die Ukraine zu verschulden. Das ist eine echte Veränderung. Sie ist das Ergebnis der deutsch-französischen Zusammenarbeit.
Das klingt revolutionär.
Wir haben dies bereits während der Pandemie getan. Wir werden darüber diskutieren, denn es geht um Prioritäten, die unsere Stärke und Unabhängigkeit ausmachen. Da haben wir eine sehr starke Kreditwürdigkeit.
Was wird aus der Koalition der Willigen, wenn ein Waffenstillstand in weite Ferne rückt?
Der amerikanische Präsident hat sich sehr klar ausgedrückt. Russland ist nicht zuverlässig. Das ist eine sehr gute Nachricht: Die Vereinigten Staaten stimmen wieder mit Europa überein. Wir haben die Koalition der Willigen am 17. Februar 2025 in Paris ins Leben gerufen. Man muss sich bewusst machen, was das bedeutet. Zum ersten Mal bieten alle diese Mitgliedstaaten der Ukraine Sicherheitsgarantien. Sie erklären sich bereit, die ukrainische Armee auszurüsten, auszubilden und im Angriffsfall da zu sein. Frei nach Immanuel Kant: Wir haben begonnen, aus der selbst verschuldeten strategischen Unmündigkeit herauszukommen. Früher dachten wir nur in Kategorien der NATO oder in Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten. Jetzt haben wir gemeinsam nachgedacht. Wir haben gesagt, dass es um unsere eigene Sicherheit geht. Wir sind dazu bereit, selbst wenn alle anderen aufgeben würden. Das ist bemerkenswert! Unser Angebot liegt auf dem Tisch. Es gibt kein Zurück mehr. Wir werden sehen, wie weit die Amerikaner bereit sind, mit uns zu gehen. Das klären wir gerade.
Sind Sie nicht zu optimistisch, was unsere Fähigkeit angeht, ohne die Amerikaner auszukommen?
Wir werden prüfen, wie wir zusätzlich zu den NATO-Sicherheitsgarantien eigene Sicherheitsgarantien für die Europäer aufbauen können. Das ist eine tiefgreifende Veränderung. Ich denke, wir werden die Amerikaner an unserer Seite behalten, um Druck auf Russland auszuüben.
Sie haben kürzlich die Verstärkung der luftgestützten nuklearen Abschreckung angekündigt. Ist dies als Geste gegenüber Deutschland zu verstehen, um zu signalisieren, dass der französische nukleare Schutzschirm dichter wird?
Der französische Nuklearschirm ist vorhanden. Ich arbeite derzeit an der Aktualisierung unserer Doktrin und möchte den strategischen Dialog mit den Europäern, die dies wünschen, weiter vertiefen. Seit 1962 gibt es ohnehin eine europäische Dimension. Anfang 2026 werde ich eine Grundsatzrede zu unserer Nukleardoktrin halten.