Marco Sturm hatte als Nationaltrainer mit Deutschland 2018 sensationell Olympiasilber gewonnen. Doch jetzt ist ihm ein regelrechter Coup als Coach gelungen. Der 47-Jährige ist Cheftrainer der Boston Bruins – als erster Deutscher. Und er ist mit zwei Siegen gestartet.
Als Angreifer Fraser Minten in der dritten Minute der Verlängerung den Puck zum 4:3-Heimsieg der Boston Bruins gegen die Chicago Blackhawks ins gegnerische Tor schlenzt, springen die 17850 Fans im TD Garden von ihren Sitzen und die Spieler der Gastgeber liegen sich in den Armen. Marco Sturm hingegen bleibt ganz cool.
Er hatte nach dem 3:1-Auswärtssieg zum Saisonauftakt bei den Washington Capitals soeben auch das zweite Pflichtspiel seiner NHL-Cheftrainer-Karriere gewonnen – innerhalb von nur 27 Stunden. Dennoch zeigt der Bayer keinerlei Emotionen.
Ein lässiger Handshake mit seinen Assistenztrainern Jay Leach und Steve Spott auf der Bruins-Bank – dann verschwindet er in den Katakomben. Die Saison sei halt lang, meint der 47-Jährige eine halbe Stunde später im Exklusiv-Interview mit der Sportschau. Sturm steht in einem kleinen Raum der Arena, weißes Hemd, goldene Krawatte, dunkle Hose.
Hinter ihm leuchten die Statistiken des 4:3-Sieges auf einem Bildschirm. Er sei ja als Trainer „doch schon ein paar Jahre dabei“, daher wisse er um die „Auf und Ab’s.“ Und deshalb sei seine Reaktion „heute eher weniger emotional“ gewesen, aber das könne sich „morgen schon wieder ändern“, so Sturm.
Dingolfing – kleiner Ort auf großer Bühne
Zwei Spiele, zwei Siege – und das als Rookie-Cheftrainer, das sei „natürlich ein optimaler Start“, freut sich der gebürtige Dingolfinger. Der kleine 20.000-Einwohner-Ort in Niederbayern war bereits am Mittwochabend bei der Übertragung der Partie zwischen Washington und Boston im TV-Sender „TNT“ erwähnt worden. Denn aus eben jenem Dingolfing hatte es Marco Johann Sturm in die NHL geschafft – einst als Spieler und nun als Cheftrainer.
Dass er damit deutsche Sportgeschichte schreibt, hat er mittlerweile mitbekommen. Denn Sturm wurde in den vergangenen Tagen öfter danach gefragt, was es ihm denn bedeute, nicht nur der erste deutsche Cheftrainer in der NHL zu sein, sondern in allen vier großen Nordamerikanischen Profiligen? Denn in der National Football League, der Basketballliga NBA und der Major League Baseball hatte es bislang auch noch keinen Head Coach aus Germany gegeben.
Sturm erst vierter NHL-Chefcoach aus Europa
„Ehrlich gesagt denke ich gar nicht daran, aber wenn ich Fragen danach bekomme, oder es lese, dann macht mich das natürlich sehr, sehr stolz“, betont Sturm. Er wisse sehr wohl, dass es „als Europäer oder als Deutscher nicht normal“ sei, Cheftrainer in der besten Eishockeyliga der Welt zu werden. Denn diese Posten werden für gewöhnlich nur an Kanadier und Amerikaner vergeben.
Die NHL wurde 1917 gegründet. Seitdem hatten in der Saison 2000/01 der Finne Alpo Suhonen bei den Chicago Blackhawks, sowie zur selben Zeit der Tscheche Ivan Hlinka bei den Pittsburgh Penguins das Vertrauen ihrer Vereinsoberen bekommen. In der vergangenen Saison wurde zudem Anders Sörensen aus Schweden bei den Blackhawks für die zweite Saisonhälfte zum Interims-Head Coach befördert. Drei Europäische Cheftrainer in mehr als 100 Jahren. In einer Liga, in der mittlerweile mehr als ein Drittel der Profis aus Skandinavien, Russland, Tschechien, Deutschland oder sogar Slowenien und Norwegen kommen.
Olympiassilber als Knackpunkt der Karriere
Warum er es jetzt als Vierter zum Chefcoach geschafft habe? „Weil ich einfach schon so lange hier bin“, antwortet Sturm. Er kam 1997 in die Liga, stürmte bis 2012 für San Jose, Boston, Los Angeles, Washington, Vancouver und Florida. In all diesen Jahren habe er sich „ein Umfeld aufgebaut“. Klar, das habe „zwar gedauert“, aber weil er eben einst 15 Jahre in der Liga spielte und weil er seit 2018 im Trainerstab der Los Angeles Kings tätig war – zunächst als Assistent hinter der NHL-Bande, dann als Head Coach im Farmteam – würden ihn „viele Leute im Eishockeybereich gar nicht als Europäer“ sehen, „sondern wahrscheinlich als Amerikaner.“
Als Neuling direkt aus Europa, da ist sich Sturm sicher, hätte er es auf keinen Fall auf seinen jetzigen Posten geschafft. Und dann war da noch die sensationelle Silbermedaille bei den Winterspielen 2018. In Abwesenheit der NHL-Profis, die von der Liga keine Freigabe bekamen, überraschte das von Sturm gecoachte und aus Spielern der einheimischen Liga zusammengesetzte deutsche Team in Pyeongchang alle. „Das war der Knackpunkt in meiner Trainerkarriere“, sagt Sturm.
“Überragend für’s deutsche Eishockey”
Nach Olympia hatte er Anrufe aus der NHL bekommen, und letztlich im Herbst 2018 die Offerte der L.A. Kings angenommen. Und nach all den Jahren dort hatte sich Deutschlands NHL-Rekordspieler (1006 Partien) im Frühjahr bereit gefühlt für den nächsten Schritt in seiner Trainer-Karriere – und bei den Boston Bruins unterschrieben. Die hatten zwar in der Saison 2023/24 noch Liga-Rekorde für die meisten Siege (65) und Punkte (135) in der Hauptrunde aufgestellt, die vergangene Spielzeit jedoch mit der schlechtesten Vereinsbilanz seit 20 Jahren im Ligakeller beendet.
Ein Neuanfang muss her – mit einem alten Bekannten. Denn Sturm hatte bereits von 2005 bis 2010 für Amerikas ältesten NHL-Klub gestürmt. Dass er nun dort Trainer ist, sei “überragend für’s deutsche Eishockey”, findet Leon Draisaitl. Er ist seit vielen Jahren mit seinen Leistungen im Trikot der Edmonton Oilers die personifizierte Werbetrommel für Eishockey “Made in Germany”.
Einheit formen und Bruins-Eishockey spielen lassen
Doch ab sofort steht auch Sturm unter besonderer Beobachtung. Er ignoriert Ergebnisse und Tabelle derzeit noch. Zum einen stehen in der Hauptrunde noch 80 weitere Partien bis Mitte April an. Zum anderen gehe es ihm „jetzt nicht um Punkte oder um das Erreichen der Playoffs“, betont er. Seine Priorität ist es „hier in Boston etwas Neues zu starten.“ Er will die tief gefallen Braunbären aufrichten, ihnen wieder eine Identität und Selbstbewusstsein geben, sie zu der gefürchteten Adresse machen, die sie viele Jahrzehnte waren.
„Die Gegner sollen sich die Spiele gegen uns im Kalender markieren, weil sie wissen, dass es dann weh tun wird“, hatte Team-Präsident Cam Neely vor Saisonbeginn ausgegeben. Sturm formuliert es etwas diplomatischer, geht aber in die gleiche Richtung. Die Mannschaft solle „wieder eine Einheit werden“ und „Boston-Bruins-Eishockey spielen.“ Gemeint ist ein körperbetontes, auf Defensive ausgelegtes Spiel, bei dem es im Scheibenbesitz schnell nach vorne geht.
Die ersten kleinen Schritte auf diesem langen Weg sind Sturm gelungen, die Bruins-Fans am Donnerstagabend zufrieden nach Hause gegangen. Und sie werden am Samstag zum Heimspiel gegen die Buffalo Sabres wieder kommen – um den nächsten Auftritt ihres deutschen Debütanten auf der Bruins-Bank zu sehen.
