Anfang Dezember war Friedrich Merz für einen Tag in Kiew. Als er abends wieder in den Nachtzug stieg, wollte jemand, der zum Verabschieden mit auf den Bahnsteig gekommen war, noch ein gemeinsames Selfie machen. „Next time as Chancellor“, sagte er zu dem Gast aus Berlin. Das nächste Mal als Kanzler.
Merz, seit 2018 zurück in der Bundespolitik, im dritten Anlauf zum CDU-Vorsitzenden gewählt, im Handstreich zum Vorsitzenden der Unionsfraktion im Bundestag geworden und anschließend zum Kanzlerkandidaten, könnte frohlocken. Das Ziel, das der inzwischen 69 Jahre alte, vital auftretende Merz offenbar sein politisches Leben lang im Auge behalten hat, ist in greifbarer Nähe. Die Hoffnung, die nächste Reise in die Ukraine als Kanzler zu machen, ist nicht unbegründet.
Schon dieses Mal wurde dem Oppositionsvorsitzenden im Bundestag in Kiew ein Empfang in der Kanzlerliga bereitet. Mit Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach Merz in dessen Palast ausführlich. Der Gastgeber gewährte Merz sogar einen gemeinsamen Auftritt vor der Presse.
Das ist bemerkenswert, weil der eine ein Land führt, der andere bloß eine Partei und eine Fraktion. Außerdem war es beim Besuch von Merz gerade eine Woche her, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in Kiew war. Beim Auftritt mit Merz wiederholte Selenskyj seinen Wunsch, den deutschen Marschflugkörper Taurus geliefert zu bekommen. Scholz weigert sich beharrlich, das zu tun. Für den Fall, dass Merz Kanzler würde, dürfte sich der ukrainische Präsident Hoffnungen machen.
Von Kiew aus reiste Merz – in einem Flugzeug der Flugbereitschaft der Bundeswehr – weiter nach Warschau, wo er von Ministerpräsident Donald Tusk empfangen wurde. Da gab es zwar keine gemeinsame Pressekonferenz. Aber dafür telefonierte Merz noch von der polnischen Hauptstadt aus mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Auch der hat den deutschen Oppositionsführer schon vor geraumer Zeit bei sich empfangen. Der Kontakt ist gut.
Doch obwohl – oder vielmehr: gerade weil – die Dinge so auf Merz und eine von ihm geführte Regierung zuzulaufen scheinen, wächst derzeit die Unruhe in der CDU. Ob in der Führungsetage der Partei, an der Basis oder in den Ländern: die Warnungen und Mahnungen vor zu großer Siegesgewissheit nehmen zu. Die einen zeigen ihre Sorge öffentlich, wie der Merz-Vertraute Thorsten Frei. In jeder Sitzungswoche des Bundestages lädt der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion Journalisten zu einem Informationsgespräch ein.
Der Verlockung widerstehen
Seit die Wahl so schnell so nah gerückt ist, mahnt der CDU-Abgeordnete, sie sei noch nicht gewonnen. Bei nicht öffentlichen Gelegenheiten tun es ihm Parteifreunde gleich. Täglich, so sagt es einer, kämpfe er in der Partei gegen die Neigung an, den Sieg schon als sicher zu sehen.
Noch werden zwar keine Listen in der CDU herumgereicht, jedenfalls nicht nach außen durchgestochen, auf denen die Mitglieder eines Kabinetts Merz stehen. Aber nicht jeder Christdemokrat lässt die Frage nach der möglichen Besetzung von Minister- oder Staatssekretärsposten unbeantwortet. Das Fell des Bären wird noch nicht verteilt, aber schon mal angeschaut.
Was fürchtet man in der CDU am meisten? Eine Gefahr ist zumindest für den Moment beseitigt. Als die einstige CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer sich Hoffnungen auf die Kanzlerkandidatur machte, stolperte sie Anfang 2020 darüber, dass der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit den Stimmen nicht nur der CDU, sondern auch der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde.
Bei dem Versuch der Einflussnahme auf die Ereignisse in Thüringen hatte Kramp-Karrenbauer eine unglückliche Figur gemacht. Die drei Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im September dieses Jahres waren daher ein potentieller Stolperstein für die Kanzlerambitionen von Merz. In der CDU-Spitze ist man daher zufrieden, dass in Dresden und Erfurt Christdemokraten zu Ministerpräsidenten gewählt wurden, ohne dass die AfD ins Spiel kam. Diese Klippe ist immerhin umschifft, ohne dass Merz Schaden genommen hätte.
Wahlkämpfer Scholz
Die Sorge in der CDU ist grundsätzlicher Natur. Schon vor Wochen mahnte ein Landespolitiker, man dürfe die wahlkämpferischen Fähigkeiten von Olaf Scholz nicht unterschätzen. Nachdem dieser es vor der Wahl 2021 zunächst nicht einmal geschafft hatte, Vorsitzender der SPD zu werden, wurde er anschließend Kandidat und holte einen großen Vorsprung des CDU-Bewerbers Armin Laschet auf. Immerhin versucht man sich in der Union damit zu trösten, dass CDU und CSU damals zerstritten waren wegen Laschets Kandidatur, heute jedoch geeint seien.
Allerdings gibt es noch ein weiteres Beispiel für eine spektakuläre sozialdemokratische Aufholjagd, damals gegen eine Christdemokratin, die wie Merz erstmals ins Kanzleramt strebte. Der wie Scholz politisch in die Defensive geratene Kanzler Gerhard Schröder lag 2005 zunächst 15 Prozentpunkte hinter Herausforderin Angela Merkel mit der CDU. Dennoch hätte er am Ende fast gewonnen. Ein Weiteres kommt hinzu. Angesichts der gegenwärtigen Umfragen würde eine sehr große Zahl von SPD-Bundestagsabgeordneten ihr Mandat verlieren. Solche Existenzangst kann wahlkämpferische Kräfte wecken.
Jenseits dieser grundsätzlichen Sorgen malt man sich in der CDU schon Vorfälle aus, die der SPD helfen könnten. Was, wenn der russische Präsident Wladimir Putin, dem in Berlin jeder Wille zur Beeinflussung der Entscheidung der deutschen Wähler unterstellt wird, kurz vor der Wahl Raketentests machen ließe? Besonders schlimm wäre das im Falle von Raketen, die atomare Sprengköpfe tragen können. Das könnte einen Wahlkampf von Scholz, in dem dieser vor einer Eskalation des Krieges in der Ukraine warnt, beflügeln, so die Sorge in der CDU.
Die Umfragen weisen nach wie vor einen großen Vorsprung für CDU und CSU aus. Die Union liegt bisher bei 30 und, je nach Institut, mehr Prozenten, die SPD alles in allem bei der Hälfte. Allerdings gibt es jetzt, da die Politik immer mehr vom Wahlkampf beherrscht wird, leichte Bewegungen: Die CDU geht etwas runter, die SPD leicht nach oben. Die persönlichen Beliebtheitswerte für den Kanzlerkandidaten Merz korrespondieren zwar nicht mit dem Vorsprung, den die Unionsparteien vor der Konkurrenz haben. Aber immerhin liegt er noch vor Amtsinhaber Olaf Scholz.
Der Unionskandidat sprach kürzlich eine Art Gewinnwarnung aus. Bei „Table.Briefings“ sagte Merz, er habe damit gerechnet, dass die Sozialdemokraten in den Umfragen zulegten. Er stellte ein SPD-Ergebnis mit einer Zwei vorne als denkbar dar. Das dürfte als Ansporn für die eigenen Truppen im Wahlkampf gedacht gewesen sein.