Die Technologie konditioniert Lebewesen, man denke nur an Dohle, Star und Eichelhäher. Sie fingen, unter anderen, nach Ausbruch des sogenannten Handybooms an, die Klingeltöne von Nokia, Ericsson und Sony zu imitieren. So gut, dass Hobby-Ornithologen und Profi-Vogelkundler schon zu Beginn des Jahrtausends verwirrt waren. Und damit aus den Wäldern und Feldern ins Berliner Olympiastadion, zum 2:1-Sieg einer überraschend spektakulär aufspielenden Hertha-Mannschaft gegen den Erstligisten 1. FC Heidenheim – und dem grandiosen Tohuwabohu, in das die Partie am Ende mündete. Wegen eines offenkundig technologiekonditionierten Schiedsrichter-Assistenten, den der Heidenheimer Trainer Frank Schmidt als VAR aus Fleisch und Blut in Erinnerung behalten wird.
Wie das kam? In der Nachspielzeit erzielte der neulich erst aus dem Ei geschlüpfte und dem FC-Bayern-Nest nur vorübergehend entflohene Paul Wanner einen Treffer, der (nach dem Anschlusstreffer von Stefan Schimmer aus der 89. Minute) das 2:2 für Heidenheim bedeutet hätte. Oder genauer: Erst einmal bedeutete. Referee Robert Kampka pfiff und zeigte auf den Anstoßpunkt, der Linienrichter Martin Wilke machte ein paar Schritte gen Mittellinie – beides nonverbale Zeichen für ein Tor, die klarer waren als der Gesang der Nachtigall. Dann überlegten sie es sich doch anders, und das war auch deshalb überraschend, weil in den Spielen der zweiten Runde des DFB-Pokals keine Videoschiedsrichter eingesetzt werden.
Trotzdem meldete sich Assistent Wilke mit Verspätung bei seinem Boss und rief erfolgreich zur Annullierung des Heidenheimer Ausgleichs auf. Der Jubel der Heidenheimer erstickte, es flatterten Arme wie Flügel, sie schrien Zeter und Mordio. Aus einem sehr legitimen Grund, wegen einer noch legitimeren Frage: warum?
Gut, es hatte in der besagten Minute der Nachspielzeit im Strafraum ein Gerangel zwischen dem Hertha-Verteidiger Marton Dardai und dem Heidenheimer Schimmer im Strafraum gegeben. Aber erstens war nicht so eindeutig auszumachen, dass Schimmer ein Foul begangen hatte; zweitens hatte der Ball die Reiseflughöhe des Sperbergeiers gehabt. Der Zweikampf war mithin ein absolut irrelevantes Randereignis.
„Eigentlich dürften wir alle gerade nicht hier sitzen, sondern müssten im Stadion sein“, sagt Heidenheim-Trainer Schmidt
Aufklärung über den Grund der Aberkennung des Treffers, der die Hertha-Führung durch Danny Sherhant (16.) und den brillanten Michaël Cuisance (74.) egalisiert hätte, gab es kurz nach der Wiederaufnahme der Partie. Denn kaum, dass der Abpfiff erfolgt war, trapste Heidenheims Trainer Frank Schmidt aufs Schiedsrichtergespann zu und erfuhr Erstaunliches. Es ging gar nicht um das erwähnte Ringerduell zwischen Dardai und Schimmer. „Am Sechzehner, da war ein Stoß, ein Schubser mit dabei“, berichtete Schmidt.
Besagten Schubser hatte es tatsächlich gegeben. Spult man die Aufzeichnung der Partie lange genug zurück, so sieht man, dass Schimmer Dardai zu Boden stößt, der Schiedsrichter es nicht wahrnimmt und der Linienrichter sich zunächst für unzuständig zu halten scheint. Zumindest lief das Spiel und damit die Angriffsaktion der Heidenheimer weiter; über einen Zeitraum, der Usain Bolt einst ausreichte, um in ebendiesem Stadion einen 100-Meter-Weltrekord zu laufen. Die Heidenheimer nutzten die Zeitspanne für die Flanke von Leonardo Scienza auf Wanner, für Wannners Tor, das die Verlängerung hätte bedeuten müssen – und dann doch nicht zählte.
Schmidt war fassungslos. Das konnte man auch noch deutlich hören, als er im Presseraum angekommen war – und nach der absolut nötigen Gratulation an die Herthaner, die gerade in der ersten Halbzeit famos aufgespielt hatten, bekannte, sich fehl am Platze zu fühlen. „Eigentlich dürften wir alle gerade nicht hier sitzen, sondern müssten im Stadion sein. Zweite Halbzeit der Verlängerung. Vielleicht ist schon Elfmeterschießen. Keine Ahnung …“, grollte er. Schmidt versicherte glaubhaft, dass er die Entscheidung hingenommen hätte, wäre sie vom Linienrichter im Affekt getroffen und kommuniziert worden. Wie früher halt.
Aber Assistent Wilke wartete und wartete. Er wartete so lange, wie Linienrichter seit Einführung des VARs mit der Anzeige von Abseitsentscheidungen warten, nach dem Motto: Wenn ich mich irre, wird es der Kölner Keller schon richten. Dann aber muss ihm wieder eingefallen sein, dass es in den ersten DFB-Pokalrunden keinen technologiebasierten Rettungsring für Referees gibt. Später, viel später, lehnte Schmidt in den Katakomben an einer Wand, und sah frustriert aus wie der Berlin-Tourist, dem sie gerade in der S-Bahn die Brieftasche geklaut hatten. Oder auch entsetzt über eine dystopisch anmutende Verformung der Akteure des einst menschlichsten aller Spiele zu einem Sport, in dem jetzt auch Hybride zum Einsatz kommen: „Es gab einen Videoschiedsrichter, bloß war der menschlich“, sagte Schmidt, und fand es einen „Wahnsinn“. Ob das gegen den Geist des Fairplay verstößt oder gar irregulär ist, wird zumindest sportrechtlich nicht geklärt werden. Von einem Protest sah Heidenheim am Donnerstag ab.