Es geht nicht nur um Cannes oder irgendeinen anderen Preis. Entscheidend ist, dass jeder Erfolg eines Films letztlich dem iranischen Kino zugutekommt. Das zeigt, dass unsere Filmkultur noch lebt, dass Werte existieren, die Bestand haben. Für den Regisseur ist es natürlich auch wichtig, dass sein Film Aufmerksamkeit bekommt, damit möglichst viele Menschen neugierig darauf werden. Warum inszeniert ein Regisseur Filme, warum schreibt ein Romanautor? Allein in Frankreich haben 670.000 Menschen den Film gesehen – das ist wunderbar.
Dieser Erfolg setzt sich bis heute fort: Nach Sydney kamen im November in New York drei Gotham Awards hinzu. Gab es in Iran, wohin Sie direkt nach Cannes zurückkehrten und am Flughafen von jubelnden Fans empfangen wurden, eine offizielle Reaktion?
Wie die Politik reagiert, das war von Anfang an zu erwarten. Bei Filmen, mit denen sie nicht übereinstimmen, greifen sie zu den immergleichen Tiraden. Meist heißt es: „Dieser Film ist doch völlig wertlos!“ Sie äußern sich nie sachbezogen oder benennen konkrete handwerkliche Kritikpunkte oder Gründe, warum ein Film für sie misslungen und verachtenswert ist. Sie urteilen sogar, ohne ihn überhaupt gesehen zu haben. Sie greifen an, verurteilen, machen ihn nieder, zerreißen ihn. So war es schon immer.
Was unterscheidet diesen Film aus Ihrer Sicht von Ihren vorigen Werken? Er hat ein schnelleres Tempo, arbeitet mit Ellipsen und ist der erste seit fünf Filmen, in dem Sie selbst nicht vor der Kamera zu sehen sind.
Ein Regisseur reagiert immer auf seine Lebensumstände. Früher habe ich in einem intakten sozialen Umfeld gelebt, war auf der Straße, unter Menschen und habe so Inspiration gefunden. Dann kam das Urteil: Ich durfte keine Filme mehr machen. Das hinterlässt natürlich ein psychisches Trauma, man fragt sich: „Wenn ich nicht mehr filmen darf, wie soll es weitergehen? Das ist mein Talent, mein Beruf, mein Leben, ich kann nichts anderes.“ So entwickelst du selbst dich zu der Achse, um die sich dein Tun dreht. Das war der Ausgangspunkt bei den fünf vergangenen Filmen, die ich nach meiner Verurteilung drehte. Daher ging es immer um mich selbst und ums Kino, um mich und die Arbeit – weil mir nichts anderes blieb. Daher stand ich selbst vor der Kamera und thematisierte, welche Wege ich fand, um zu arbeiten.
Während des Hausarrests drehten Sie in Ihrer Wohnung, klebten auf dem Boden einen Grundriss eines Hauses auf und nannten es: „Das ist kein Film“. In „Closed Curtain“ verlagerten Sie Ihren Hausarrest ans Meer, später vergrößerten Sie Ihren Aktionsradius auf Ihr Auto . . .
Ich stehe zu jedem meiner Filme. Ein Regisseur ist immer sein eigener strengster Richter: Er beurteilt in aller Stille, ob ein Film Bestand hat, ob er die Mühe wert war, ob er ihm selbst gerecht wird. Was mich antreibt, sind weder Preise noch Festivalteilnahmen, sondern die Überzeugung, dass ich meinen besten Film erst noch drehen werde.
Ihr berühmtester Film bislang ist „Taxi Teheran“, für den Sie 2015 den Goldenen Bären gewannen.
Er entstand aus der Überlegung heraus, was ich tun könnte, wenn ich keine Filme machen darf. Ich beherrsche sonst nur das Autofahren – also wurde ich Taxifahrer. Natürlich musste meine Kamera mit, um die Geschichten meiner Fahrgäste zu erzählen. Als es hieß, ich dürfe das Land nicht verlassen, begab ich mich an die iranische Landesgrenze und habe per Whatsapp meinen Leuten auf der anderen Seite der Grenze Regieanweisungen gegeben. Daraus wurde mein letzter Film, „No Bears“. Die Filme nahmen also aufgrund der Justizurteile erst ihre konkrete Form an.
„No Bears“ stammt aus dem Jahr 2022. Haben Sie aktuell mit „Ein einfacher Unfall“ eine völlig neue Phase Ihres Schaffens eingeläutet?
Von offizieller Seite hieß es, dass alle Urteile abgegolten seien und ich wieder Filme drehen dürfe. Also konnte ich zum ersten Mal wieder hinter die Kamera zurückkehren. Die Methodik musste trotzdem dieselbe bleiben. Denn ich bin ja nicht bereit, mich unter die Zensur zu begeben. Ich arbeite also weiter im Untergrund, weil man einem Film wie diesem nie eine Drehgenehmigung erteilen würde.
Auch die Thematik ist neu: Warum haben Sie Rache, Schuld, Vergeltung und Vergebung als Sujets gewählt?
Das ist nur die Oberfläche der Geschichte, der Plot, der den Zuschauer mitnehmen soll, der Vorwand, um eine viel größere Frage in Angriff zu nehmen – die nach der Zukunft unseres Landes: Wie wird es weitergehen? Wird weiterhin die Gewalt dominieren oder wird das Land mal an einen Punkt kommen, an dem es sich aus dieser Endlosspirale befreit? Wenn ich die Möglichkeit der Vergebung nicht aufgezeigt hätte, sondern nur Rache und Vergeltung, wäre das eine unzulässige Vereinfachung gewesen. Dann hätten wir die Verantwortung auf die Individuen geschoben, statt auf die Struktur, das System und die Regierung. Um das Problem zu beheben, reichen keine Reformen mehr aus. Unsere Figuren begreifen langsam, dass die Schuld nicht bei einem einzelnen Täter zu suchen ist, sondern strukturbedingt ist. Und damit politisch. Schuldig sind nicht die Bürger, sondern eine derartige Regierung.
Eine Aussage, die kaum expliziter sein kann. Bisher waren Sie diplomatischer und konzilianter: Sie haben mit Klugheit, Witz und Chuzpe pariert und damit Ihre moralische und intellektuelle Überlegenheit demonstriert. Ihr Ton ist jetzt völlig verändert, warum?
Nach der „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung hat sich das Bewusstsein im Land völlig verändert. Bei den letzten Wahlen lag die Beteiligung zuletzt auf einem historischen Tiefstand, selbst nach den offiziellen Zahlen. Die Bevölkerung durchschaut das System. Die Geschichte der Islamischen Republik hat sich durch die „Frau, Leben, Freiheit“- Bewegung verändert. Mit ihr wurde eine neue Seite aufgeschlagen: Es gibt die Ära vor dieser Bewegung und die danach.
Sie gelten als geradlinig, waren jedoch nie auf Konfrontation aus. Sind weniger Dissident, sondern Anwalt der Menschlichkeit. Wie hat die politische Bewegung Sie in Ihrem Selbstverständnis als sozialer Filmemacher beeinflusst?
Ein sozialer Filmemacher hält sich an die Realität einer Gesellschaft, muss Schritt halten mit den gesellschaftlichen Entwicklungen oder ihnen sogar voraus sein. Die Bewegung hat großen Einfluss auf alle Bestandteile der Gesellschaft, also auch auf mich. Sie verleiht Mut. Ich muss in meinen Filmen wenigstens dieselbe Kühnheit aufbringen und dasselbe Wagnis eingehen wie die Menschen im Land.
Wie lautet Ihre persönliche Antwort auf die Frage nach Irans Zukunft?
Ich bin gar nicht befugt, eine Antwort zu geben. Ich spüre nur die Präsenz und Relevanz eines Themas auf und fokussiere meine Arbeit darauf. Die Antwort erarbeitet dann die Gesellschaft.
Sie waren 2022 selbst in Haft in Evin und traten in Hungerstreik. War diese Saga über vier ehemalige Insassen, die ihren früheren Peiniger zu erkennen glauben, auch durch Ihre eigene Erfahrung geprägt?
In sieben Monaten in Haft ist man Menschen begegnet, hat ihre Geschichten gehört, mit ihnen diskutiert und ihre Welt kennengelernt. Sie wurden Vertraute. Dann kommst du raus, aber kannst du die Zurückgelassenen vergessen? Nicht mehr an ihr Befinden denken? Diese Begegnungen wollen verarbeitet werden, und das tat ich auf meine Art, mit der Kunst.

Sie drehen nicht nur ohne offizielle Drehgenehmigung, mit versteckten Kameras, an abgelegenen Orten, oft sind die Crew und Sie nicht mal am selben Ort. Ihre Methodik hat in Iran Schule gemacht. Wie gefährlich war dieser Dreh für Ihre Schauspieler?
Viele Schauspieler wollten hier mitwirken – aus Überzeugung, mit Leib und Seele. Nach „Frau, Leben, Freiheit“ hat sich vieles verändert. Der Weg ist nun klar, und jeder will seinen Teil beisteuern. Alle, die ich ansprach, sagten sofort zu, nur einer musste aus persönlichen Gründen absagen. Alle anderen interessierte nicht mal die Gage. Sie wollten an einem Werk teilhaben, das Relevanz hat.
Es ging aber auch nicht ohne einen „einfachen Unfall“ ab: Man kam Ihnen auf die Spur.
Das war keine Überraschung, dass wir entdeckt wurden, wir rechneten damit. Daher drehten wir zuerst dort, wo wir unsichtbar waren – in Häusern, Parkhäusern, in der Wüste. Sobald wir auf der Straße unterwegs waren, fielen wir auf. Man verlangte das gesamte Rohmaterial von uns, aber wir hatten vorgesorgt. Einige Crewmitglieder wurden festgenommen, weil man davon ausging, dass ihr Ausstieg den Film zunichtemachen würde. Aber wir hatten schon das meiste im Kasten. Die letzten Szenen drehten wir dann mit einem winzigen Team und konnten so den Film fertigstellen.
Sie reisen seit drei Monaten für die Oscar-Kampagne des Films um die Welt. In Ihrer Abwesenheit wurde im Dezember ein neues Urteil gegen Sie erlassen: ein Jahr Haft und zwei Jahre Ausreiseverbot wegen „Propaganda-Aktivitäten“. Auf die Frage, warum Sie jetzt nicht im Ausland bleiben, antworteten Sie auf dem Festival von Marrakesch: „Ich besitze nur einen Pass“. Schmerzt es diesen Patrioten, dass Sie nun Oscar-Anwärter für Frankreich sind?
Das Problem hatte ich ja schon immer, dass meine Filme nie von iranischer Seite eingereicht wurden. Die Oscar-Regeln besagten lange, dass der kandidierende Film im Produktionsland mindestens eine Woche lang im Kino laufen musste und Tickets verkauft worden sein müssen. Vor einem Jahr wurde diese Regel modifiziert, jetzt muss er nur noch eine Woche im Kino gelaufen sein, egal wo. Ich erinnere mich noch, wie es bei „Offside“ war: Nach dem Gewinn des Silbernen Bären verfasste die Produktionsfirma einen Brief mit dem Plädoyer, den Film in Iran zu zeigen – man sei sicher, dass dem Film weiterer Erfolg beschieden sein würde, man würde auch eine Oscarkampagne dafür starten. Aber nichts passierte. Iran weigerte sich, den Film auch nur eine Woche lang zu zeigen. Jetzt ergab sich die Option, dass ein anderes Land diesen Film einreicht, leider nicht Iran. Vielleicht ist es sogar besser, damit diesem Film nicht dasselbe Schicksal zuteil wird wie „Offside“ und den anderen. Jetzt geht dieser seinen eigenen Weg.
Ihre Heimat rühmen Sie als einzig lebenswerten Ort für sich, selbst wenn man Ihnen dort hart zusetzt. Kommt Rache überhaupt in Ihrer Gefühlswelt vor?
Der Mensch Panahi ist nicht identisch mit dem Filmemacher Panahi. Vielleicht denke ich persönlich an Rache – aber das findet in meinen Filmen keinen Platz. Ich ergreife für keinen meiner Charaktere Partei, sie sollen nur sich selbst treu sein. Deswegen bezeichne ich mich auch als sozialen Filmemacher, weil es in sozialen Filmen nicht das absolut Gute oder das absolut Böse gibt. Ich gebe jedem Charakter eine Stimme, sogar der Person des Peinigers. Ich würde nie sagen, er sei der Bösewicht des Films.
Warum ist es Ihnen so wichtig, als sozialer Filmemacher zu gelten, nicht als politischer?
Ich ernte oft Erstaunen, wenn ich sage, dass ich kein politischer Regisseur bin. Manche denken, ich hätte wohl doch Angst bekommen . . . Ich bin der Ansicht, dass ein politischer Film die Stimme einer Gesinnung widerspiegelt. Dass die Charaktere danach beurteilt werden, ob sie mit der jeweiligen Ideologie konform gehen. Der gesellschaftliche Film hingegen würde diese Einteilung nie vornehmen. Selbst wenn ich Krieg thematisierte, wäre ich immer noch ein gesellschaftlicher Filmemacher, der die Politik nur als Sujet wählte, aber dabei den Prinzipien des sozialen Films treu bleibt.
Sind Ihre Filme eine Form des Widerstands?
In Iran ist alles Widerstand, wie du dich kleidest, wie du gehst, wie du lebst. Das System sucht ständig nach Vorwänden, Menschen anzuklagen, selbst nach absurdesten. Sie würden dich anklagen, weil du mit dem Fuß ein herabgefallenes Blatt berührt hast. Man darf nicht zu viel darüber nachdenken. Man muss einfach weitermachen.
Die Politik klopft aber immer an Ihre Tür.
Sie klopft an jede Tür und hat Probleme mit jedem. Gibt es jemanden in Iran, der nicht mit der Politik konfrontiert ist?
Sie sagten, dass Sie nach Iran zurückkehren werden, ungeachtet des neuen Urteils.
Ja natürlich. Als das große Urteil (von 2010 mit 20 Jahren Arbeits- und Ausreiseverbot, Anm. d. Red.) gefällt wurde, bin ich auch nicht geflohen. Warum sollte ich jetzt nicht zurückkehren?
Wie erklärt sich Ihr Großmut, Ihre Ungebrochenheit, Ihre Courage?
Mut ist relativ – Mut im Verhältnis zu wem? Vielleicht wenn Sie mich mit jemandem vergleichen, der zu Hause sitzt und jede Konfrontation scheut. Wenn Sie mich mit denen vergleichen, die seit Jahrzehnten im Gefängnis sind, aber ungebrochen zu ihrem Wort stehen, wäre es anmaßend, mich mutig zu nennen. Ich tue nur das, was in meiner Macht steht, was meiner Überzeugung entspricht und was ich beherrsche – Filme.
