Du hast nur 18 Sommer mit deinem Kind – Gesellschaft

Heute schon genossen? Oder jemand anderen dazu aufgefordert, dass er oder sie es doch genießen könnte, sollte, müsste? Genießen, dass ein warmer Kinderkörper Sie mitten in der Nacht an den Rand des Familienbetts drängt, so dass Sie um 6 Uhr freiwillig aufstehen. Dass jetzt das Laub in den sagenhaftesten Farben von den Bäumen segelt, gelb, rot, ockerfarben, von diesen Bäumen, die uns ja allen gehören, anders als die angemieteten Wohnungen, die man sich nur leisten kann, weil man seine Gehaltsabrechnungen nicht liest. Dass man vielleicht noch fünfmal mit seinem Kind einen magischen Herbst erleben, gemeinsam Kastanien sammeln wird, bevor es nichts mehr mit einem zu tun haben will. Fatalistisch formuliert: Dass es jeden Moment nur einmal gibt, ein Mantra übrigens, das einen gut draufbringen soll. Mich stürzt es in eine Vanitas-Krise.

Der Befehl, es zu genießen, verfolgt mich seit Längerem, ich nenne dieses Elternphänomen in Ermangelung passender Schlagwörter den parentalen Imperativ. Es begann in der Schwangerschaft. Sei es der Hausarzt oder die Nachbarin, der Kollege im Aufzug oder die Kassenbekanntschaft im Supermarkt, die gute Bekannte oder der Schaffner im ICE, sie alle sagten mir, ich müsse es genießen. Wobei nicht immer klar wurde, was mit es gemeint war: die angezählte Selbstbestimmung, das Sodbrennen, die Superkraft, dass da ein Leben in einem heranwächst? Manch eine Frau würde es genießen, einfach wie ein normaler Mensch behandelt zu werden.

Als das Kind auf der Welt war, zog der Drill an, es war wie beim Militär: Genieß es, genieß es, genieß es! wurde mir entgegengeschrien, auf der Wöchnerinnenstation, von erfahreneren Müttern, und ja, auch ich schrie mich in Gedanken an, ich müsse alles super finden, 24 Stunden am Tag, sonst sei ja irgendwas falsch. Ich schreie bis heute, meine Tochter wird bald vier.

Im Netz gibt es diese gemeine Affirmation, „noch 18 Sommer mit deinem Kind“, und da ich den vor zwei Wochen zu Ende gegangenen Kleinfamiliensommerurlaub in Teilen schön, aber auch immer wieder derart zehrend fand, dass ich von einem Rettungshubschrauber ausgeflogen werden wollte, zählte mein Hirn gleich runter, mein schlechtes Gewissen ließ Peitschenhiebe auf mich herab, noch 14 Sommer mit meiner Tochter, noch 13, zwölf. Habe ich genügend Sandburgen gebaut? Wie viele Abendessen bleiben uns bis zum Abitur? Und fordern einen andere Eltern eigentlich ständig zum Genießen auf, weil sie es selbst nicht genießen konnten? Egal, der Countdown läuft.

Meine Vergänglichkeitsgedanken durchbrach niemand anderes als meine Tochter, die sich seit Neuestem für den Tod interessiert. Wir sprachen gerade darüber, in welchem Alter Menschen für gewöhnlich sterben, sie fragte: „Aber wir leben noch, oder?“ Dies hob meine Stimmung enorm, und so gehen wir heute Nachmittag Herbstlaub und Kastanien sammeln, einfach, weil ich das so möchte. Ich will schwer hoffen, dass sie es genießt.

In dieser Kolumne schreiben Patrick Bauer und Friederike Zoe Grasshoff im Wechsel über ihren Alltag als Eltern. Alle bisher erschienen Folgen finden Sie hier.