Wie wichtig Hip-Hop für die Identität westlicher Popkulturen ist, sieht man gerade jetzt, wo seine jahrzehntelange Vorherrschaft erstmals schwindet und die vordersten Plätze der Charts wieder von Pop, Country und sogar Rockmusik besetzt werden. Im vergangenen Sommer scheint das Genre in einer Art Endstadium angekommen zu sein. Man erkennt es daran, wie seine größten Stars unruhig werden, sich beißen und damit noch einmal die Spitze der Aufmerksamkeit zu erreichen versuchen.
Die Wette lief im letzten Jahr an, als der Rapper J. Cole in First Person Shooter, einem gemeinsamen Song mit Drake, behauptete, sie beide und Lamar seien die großen Drei des Rap. Gar nicht wahr, fand Lamar. Er allein sei nämlich der Größte. Damit stand der Zerstörung einer alten musikalischen Freundschaft und der Eskalation vom Sandkasten bis zur Skyline nichts mehr im Weg. Zwischen Kalifornien und Kanada bekriegten sich Lamar und Drake monatelang mit den Waffen der Musik.
Höhepunkt der Fehde war vergangenen Mai Lamars Schmähsong Not Like Us, im Hip-Hop Disstrack genannt, mit dem er Drake als „certified pedophile“ bezeichnete, also als erwiesenen Kinderschänder. Fast eine Milliarde Streams, der erfolgreichste Song in der Karriere von Lamar. Die Textsicherheit ist unter 30-Jährigen auch in Deutschland beeindruckend hoch.
Aktuell kontert Drake mit potenziell noch schwererem Geschütz. Es geht jetzt nicht mehr nur um den Ruf und die Musik, sondern um Geld, in diesem Geschäft also um die Seele. Drakes Anwälte sind bei Gerichten im US-Bundesstaat New York und in Texas mit Dokumenten vorstellig geworden, die Betrug und Verleumdung beweisen sollen. Vorsicht: Das sind noch keine Prozesse, sondern Abklärungen, in der US-amerikanischen Rechtsprechung sogenannte petitions. Ob es zu einer Anklage kommen wird, ist unklar.
Aber in der Öffentlichkeit und für den Streit der beiden Rapper spielt das gerade eine untergeordnete Rolle. Der Vorwurf, der nun mit der petition in New York in die Welt gelangt: Die Plattenfirma Universal habe Radiostationen bestochen und bei Streaminganbietern Bots eingesetzt, um Lamars Not Like Us zum Monsterhit zu machen.
Oha, die Musikindustrie greift zu unlauteren Mitteln im Wettbewerb ihrer größten Geldbringer? Das darf doch nicht wahr sein! Noch seltsamer werden das Vorpreschen von Drakes Anwälten und die Empörung darüber, wenn man bedenkt, dass Lamars Plattenfirma und Drakes Plattenfirma zum selben Dachkonzern gehören: Beide stehen letztlich bei der Universal Music Group unter Vertrag, der größten Firma ihrer Art auf der Welt, und zwar mit Abstand. Ist der ganze Fall also nur ein Kasperletheater, in dem es statt um gestohlene Kaffeemühlen um Privatflugzeuge voller Gold geht?
Für die Inszenierung des Ganzen spricht viel, man kann sich die Figuren wie in einem Roman vorstellen, der wegen seiner großen Popularität allerdings nie den deutschen Buchpreis gewinnen würde. Kendrick Lamar gibt darin den kalifornischen Rapper für Connaisseure und Intellektuelle und wirkt dennoch authentisch von der Straße, was auch heißt: trotz Millionen auf dem Konto immer gleich beleidigt.
Wollte man Lamar auf das Maß des deutschen Kulturbetriebs herunterrechnen, wäre er also der Schriftsteller Clemens Meyer. Auch dieser besitzt bei eher handfesten Intellektuellen street cred und scheint nur rudimentär zwischen Größenwahn und Selbstzweifeln zu unterscheiden. Der kanadische Rapper Drake ist in diesem Vergleich Juli Zeh: schlechtere Texte, noch mehr Erfolg.
Aber der Vergleich hat Grenzen, nicht nur, weil Meyer und Zeh für unterschiedliche Verlage schreiben. Die im Hip-Hop seit jeher üblichen Battles, Beefs und Disstracks können jederzeit das Feld des Spielerischen verlassen: Jeder Spaß ist zugleich ernst, jeder verbale Angriff kann mit echtem Blutvergießen enden. Morde an Rappern wie Tupac Shakur und The Notorious B.I.G. sind keine Einzelfälle aus den Neunzigerjahren. Und ob es Zufall war, dass vor Drakes Anwesen in Toronto auf einen Wachmann geschossen wurde, nachdem das Cover von Lamars Not Like Us eine Luftaufnahme von genau diesem Anwesen gezeigt hatte?