Dokumentarfilm über Odessa im Krieg: Die Wunden der alten Hafenstadt

Ein Explosionsgeräusch. Dann Geheule, Luftalarm und eine Durchsage: „Bürger von Odessa, begeben Sie sich unverzüglich in die Schutzräume.“ Flackernde Lichter spiegeln sich in Fensterscheiben, Hunde bellen. Einer von ihnen, ein kleiner weißer, huscht verschreckt über den Bürgersteig vor einem Wohnhaus in Odessa. Es ist Abend oder Nacht, die Gegend ist menschenleer. Man hört nur die lauten Einschläge aus der Ferne, die Bedrohung wird auf der Soundebene transportiert.

Minutenlang ist in dieser Passage des Films „When Lightning Flashes Over the Sea“ der gleiche Ausschnitt zu sehen. Das ist der Stil des Dokumentarfilms der deutsch-ukrainischen Regisseurin Eva Neymann – oft verharrt die Kamera in einer Einstellung, sie zeigt Jungs im Alltag auf der Straße, die fantasieren und mit sich selbst reden, Obdachlose oder Banksitzer, die über das Leben philosophieren, ältere Menschen in ihren Wohnungen, die aus ihrer bewegten und bewegenden Biografie berichten.

Immer nimmt sich der Film viel Zeit für seine Motive. Zeit, um sich ein Bild vom Leben in einer erhabenen, alten Stadt im Krieg zu machen. Zeit, die Kratzer, die Beschädigungen, die Fleischwunden Odessas in den Blick zu nehmen.

„When Lightning Flashes Over the Sea“ hat bei der diesjährigen Berlinale Premiere gefeiert, nun kommt der Film in Deutschland in die Kinos. Regisseurin Neymann ist in Saporischschja aufgewachsen, kam in den Neunzigern zum Jurastudium nach Deutschland, lernte später an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin und machte dort 2006 ihren Abschluss. Sie hat sich bereits in Spielfilmen mit der (jüdisch-)ukrainischen Geschichte auseinandergesetzt, sie hat zuletzt einen Dokumentarfilm über den großen Pryvoz-Markt in Odessa vorgelegt („Pryvoz“, 2021).

Der Film

„When Lightning Flashes Over the Sea“. Regie: Eva Neymann. Deutschland/Ukraine 2025, 124 Min.

Hier zeigt Neymann nun sehr viele Facetten der ukrainischen Hafenstadt in Zeiten des Krieges: Das Meer, die vielen Katzen, Straßenszenen und immer wieder Luftalarme. Sie erzählt aus dem Alltag der Bewohner:innen, aber rückt etwa auch die schwer beschädigte Verklärungskathedrale in den Blick, die Schäden in der historischen Altstadt insgesamt. Der Titel des Films entstammt dem Mund eines Jungen, den Neymann im Film porträtiert, er sagt zu seinem Vater: „Wenn es über dem Meer blitzt, werden die Wünsche in Erfüllung gehen.“

Das beharrliche Hinschauen, Hinhören und Hineinspüren ins Leben Odessas sind die Stärken dieses Films. Im Alltag einer Stadt ist auch zu Kriegszeiten alles in Bewegung, Neymann gelingt es durch die langen Beobachtungen in Zwischenräume zu blicken, Abseitiges zu entdecken und vor allem zu zeigen, was der Krieg in den Psychen der Be­woh­ne­r:in­nen anrichtet. Was die Kinder spielen und fantasieren, was die Erwachsenen träumen, welches ihre Ängste sind, interessiert die Regisseurin.

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Sie wählt dabei auch die richtigen Protagonist:innen. Eine Shoah-Überlebende erzählt von ihren Erinnerungen an den Herbst 1941, als in der Stadt Dubăsari (heute Teil des russisch kontrollierten Gebiets Moldaus) mehrere tausend Jüdinnen und Juden von deutschen SS-Einsatzgruppen ermordet wurden. Die alte Frau sitzt sichtlich berührt auf ihrem Sofa, Teppiche und Decken mit Ornamenten um sie herum, sie wiegt den Körper auf und ab und spricht über das Glück des Überlebens.

„In Dubăsari hatte man schon eine Grube ausgehoben, dort sollten wir hineingetrieben und getötet werden“, berichtet sie. Daran zurückzudenken, sei schmerzhaft. „Ich hatte eine ältere Schwester. Ljuba hieß sie. Sie war ein hübsches Mädchen. Sie ist gestorben. Ich bin am Leben geblieben“, sagt die Frau kurz darauf. Die Erzählungen der Frau, ihre schlichten Schilderungen, auch ihre Auslassungen, zählen zu den eindrücklichsten und berührendsten Momenten des Films.

Bei den Alten reißt der Krieg Wunden wieder auf, bei den Jungen sorgt er für große Ungewissheit. So porträtiert Neymann einen jungen Mann, einen Maler und Zeichner, der eigentlich gegen „den Irrsinn des Kriegs“ ist, aber nicht weiß, wie man das anstellen soll, wenn die Alternative die Kapitulation ist. Er soll einberufen werden, soll gegen seinen eigenen Bruder kämpfen, der in Moskau lebt und auf Seiten der Russen kämpft.

„When Lightning Flashes Over the Sea“ ist ein poetischer Film, auch wegen eingestreuter inszenierter Sequenzen – in einer tanzt etwa ein Kind mit einem Baustellen-Absperrband wie bei der rhythmischen Sportgymnastik, in einer anderen bringen leuchtende Ballons etwas Licht in die dunkle Umgegend. Und in einer Szene beobachtet die Kamera aus der Ferne von hinten eine alte Frau und einen alten Mann, die nebeneinander an der Bushaltestelle sitzen und sich unterhalten. „Wird dieser Krieg irgendwann vorbei sein?“, fragt die Frau ihn zum Schluss. „Natürlich, natürlich“, antwortet der.