Acht
Offiziere stehen auf jeder Seite des Schachbrettes hinter der Phalanx ihrer
Bauern, zum Aufbruch in den Kampf bereit, wobei es die Frage ist, ob man den
König einen Offizier nennen kann. Er steht ja über den Dingen, kann zwar
bedroht, gejagt, in die Enge getrieben, mattgesetzt werden, aber geschlagen wird
er nie. Er hat ein ewiges Leben, was tröstlich sein kann nach einer bitteren
Niederlage.
Manchmal
hängt das Ergebnis einer Partie am Wohl und Wehe einer einzigen Figur, wie
jetzt am Mittwoch auf der Bühne des Ballsaals im Hotel Equarius auf der Insel
Sentosa, die zum Stadtstaat Singapur gehört. In einem verglasten Kasten
verteidigt der Weltmeister Ding Liren aus China seinen Titel gegen Gukesh, den einnamigen
Herausforderer aus Indien.
Ding hat
Schwarz und im Match einen Punkt Vorsprung, und zieht nach ein paar Standardzügen des Abgelehnten
Damengambits seinen Läufer auf das Feld f5, um die weiße Dame anzugreifen. Die
wertvolle Dame muss ausweichen, ein Tempogewinn, wie schön. Wenig später aber
wird Dings Läufer von einem Bauern angegriffen, und weil er nicht so richtig
gut zurückweichen kann, ergreift er im 10. Zug die Flucht nach vorn, tief ins
weiße Lager hinein. Auf dem Feld c2 kommt er zu stehen und steht dort und
steht, 14 Züge lang, während sich seine Lage zusehends verfinstert. An die 300
Schaulustige im Saal und Millionen an den Bildschirmen fragen sich von Zug zu
Zug: Was wird aus diesem Irrläufer? Kommt er da noch raus, oder droht ihm der Garaus?
Läufer
weg, Partie weg, so einfach ist Schach. Die Partie hat also ihr Thema gefunden, das sich
in unablässigem Grübeln zeigt. Ding denkt und denkt und denkt. Könnte jemand
seine Gedanken lesen, liefen sie auf eine Frage hinaus: Wie rette ich diesen
verdammten Läufer? Gukesh gibt die Antwort im 24. Zug: gar nicht. Weder hat der
bedrohte Läufer ein Fluchtfeld, noch lässt er sich verlässlich verteidigen.
Geräuschlos wird er vertilgt von einem weißen Turm.
Über all der Grübelei sind Ding von seinen zwei Stunden Bedenkzeit nur 20 Minuten
geblieben, in denen er jetzt noch 16 Züge ausführen muss, um die Zeitkontrolle
zu schaffen und weitere 30 Minuten auf die Uhr zu bekommen. Läufer weg,
Stellung schlecht, keine Zeit: Da ahnen auch Laien, wie das ausgehen wird.
Gukesh ist
erst 18, der jüngste Herausforderer der WM-Geschichte, es ist sein erster Kampf
um den Titel: Jetzt wird er ganz ruhig, nimmt sich Zeit, er hat ja genug, um
jede Bewegung auf dem Brett penibel durchzurechnen. Er, der am Montag die erste Partie
des Duells krachend verlor, gibt den Sieg in der dritten nicht mehr aus der
Hand. Ding hält gegen bis zum 37. Zug; da verstreicht seine letzte Sekunde, und
die Stellung ist auch hin. Beifall brandet auf im Ballsaal. Man hat den
Weltmeister verlieren sehen.
Bei der
anschließenden Pressekonferenz sitzt er auf dem Podium und lässt minutenlang den
Kopf hängen, wirklich hängen. Er sieht genauso aus, wie er sich fühlt. Ein
geschlagener Held, wenn nicht sogar ein bekloppter Dussel: Warum, warum musste ich
mich bloß auf so eine Variante einlassen? Nach dem siebten Zug, sagt er, habe
er schon nicht mehr gewusst, was tun.
Ding hängt
durch. Und was macht sein König? Der steht immer noch auf dem Brett im
Glaskasten. Aber weil die warme Luft in Singapur so feucht ist und die
Kühlaggregate im Saal so stark sind, beschlägt die Scheibe vor der Bühne über
Nacht. Der König ist nicht mehr zu sehen.
Am
Donnerstag wird nicht gespielt in Singapur. Die vierte Partie der WM beginnt am
Freitag um 10 Uhr deutscher Zeit. Alle Berichte unseres Schachreporters finden
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