Digitale Resilienz und News Avoidance: Vom guten Umgang mit schlechten Nachrichten – Wirtschaft

Die Nachrichten können Angst verbreiten, das Leben kann Mut machen. Immer mehr Menschen reagieren darauf, indem sie sich ins Private zurückziehen. Einerseits ist das verständlich. Wladimir Putin und Donald Trump kümmern sich nicht darum, ob man Eilmeldungen liest oder Diskussionssendungen hört. Warum sollte man sich täglich damit auseinandersetzen, was alles schiefläuft, wenn man ohnehin nichts ändern kann?

Andererseits ist die Entscheidung, Nachrichten zu meiden, ein Privileg, das sich nur ein Bruchteil der Weltbevölkerung leisten kann. In Deutschland kann man die Augen verschließen, weil es einen nicht direkt betrifft. „Ignorance is bliss“, schrieb der britische Dichter Thomas Gray im 18. Jahrhundert, und das stimmt: Weniger zu wissen, kann ein Segen sein. Doch der Grat zwischen Reduktion und Ignoranz ist schmal. Wer die Welt aussperrt, gibt sie auf. Dieser Text soll dabei helfen, bewusster mit Nachrichten umzugehen, ohne sich abzuschotten.

Die Zahl der Menschen, die Nachrichten aus dem Weg gehen, wächst seit Jahren. Gleichzeitig vertrauen weniger Menschen den Medien und interessieren sich weniger für Politik. In Deutschland fallen die Zahlen weniger dramatisch aus als in anderen Ländern. Der Trend ist aber eindeutig. „Versuchen Sie heutzutage manchmal aktiv, Nachrichten zu vermeiden?“, fragt der Reuters Digital News Report jedes Jahr. 2017 schätzte sich weniger als die Hälfte der Befragten in Deutschland als Nachrichtenvermeider ein. 2024 waren es mehr als zwei Drittel. Der Anteil der Menschen, die oft versuchen, Nachrichten zu meiden, verdreifachte sich nahezu und stieg von fünf auf 14 Prozent. Vor zehn Jahren bezeichneten sich noch acht von zehn Befragten als überaus oder sehr an Nachrichten interessiert. Aktuell sind es noch gut die Hälfte.

Für News Avoidance, zu Deutsch: Nachrichtenvermeidung, wie die Wissenschaft das Phänomen nennt, gibt es viele Gründe. Menschen mit geringem Einkommen und formal niedriger Bildung meiden häufiger die Nachrichten. Wer in einem Haushalt aufwächst, in dem Journalismus und Medien einen geringeren Stellenwert haben, entwickelt selten eine Routine, die regelmäßigen Nachrichtenkonsum beinhaltet. Gespräche im eigenen Umfeld drehen sich um andere Themen, Politik und Wirtschaft scheinen mit dem eigenen Leben wenig zu tun zu haben.

Neben der Sozialisierung ist das Alter ein wichtiger Faktor. Jugendliche und junge Erwachsene haben weniger Bezug zu klassischen Medien. Nachrichten erreichen sie über Plattformen wie Instagram oder Tiktok. Manche Newsfluencer (also Nachrichten-Influencer) und Creator berücksichtigen journalistische Standards, andere verbreiten Meinungen und gefährliches Halbwissen. In beiden Fällen sind Medien gefordert. Zeitungen, Online-Medien und der öffentlich-rechtliche Rundfunk müssen überlegen, wie sie komplexe Themen noch besser erklären können. Es geht darum, Zuschauerinnen und Lesern verständlich zu machen, was Ereignisse bedeuten und warum sie für ihren Alltag wichtig sind.

Zur Nachrichtenvermeidung gehören aber immer zwei: Produzentinnen und Rezipienten. Auch das Publikum hat eine Verantwortung. Das gilt besonders für Menschen, die mit Medien aufgewachsen sind, die schon immer Wert darauf gelegt haben, sich politisch und wirtschaftlich zu informieren – und die dann eine mehr oder weniger bewusste Entscheidung treffen: Geh mir weg mit all dem Elend, ich ertrage es nicht mehr länger.

In Maßen ist das sinnvoller Selbstschutz, denn zu viele schlechte Nachrichten können im schlimmsten Fall krank machen. Über den Anschlag auf den Boston-Marathon im Jahr 2013 berichteten viele Medien mit Livetickern und Videos. Diese Berichterstattung löste bei Menschen, die sich intensiv damit auseinandersetzten, starken Stress und Traumata aus. Wer in der Woche nach dem Anschlag mindestens sechs Stunden täglich Medien konsumierte, besaß ein neunmal höheres Risiko für Belastungssymptome als Menschen, die das Ereignis weitgehend ignorierten. Teils überstieg das Stresslevel der Zuschauer im Netz und am Fernseher gar das der Augenzeugen vor Ort.

Gar keine Nachrichten sind vielleicht bequem, aber sicher auch keine Lösung. Das vergangene Jahr hat gezeigt, dass Autokraten demokratische Wahlen gewinnen können. Auch in Deutschland nehmen extremistische und faschistische Einstellungen zu, gerade jetzt muss die Demokratie wehrhaft sein. Studien zeigen, dass Nachrichtenvermeidung stark mit niedriger Wahlbeteiligung und geringem zivilgesellschaftlichem Engagement korreliert. Umso wichtiger sind informierte und interessierte Bürgerinnen und Bürger, die nicht an der Komplexität der Welt verzweifeln. Sondern die versuchen, sie zu verstehen.

Man muss also zwischen Doomscrolling, also dem endlosen Scannen negativer Nachrichten, und Biedermeier balancieren. Es geht darum, einen nachhaltigen Umgang mit Nachrichten zu finden und selbst zu entscheiden, wann man sich mit welchen Informationen beschäftigen möchte. Diese fünf Tipps können helfen, Grenzen zu setzen und digitale Resilienz zu entwickeln.

1. Push-Nachrichten pausieren

2008 erinnerte sich eine Marktforscherin in der New York Times an den Satz eines Studenten, der seitdem auf fast jeder Konferenz zur Zukunft der Medien zitiert wird: „Wenn die Nachrichten wichtig sind, werden sie mich finden.“ 16 Jahre später braucht es den ersten Halbsatz nicht mehr, denn Nachrichten finden die Menschen, ganz gleich, ob sie wichtig sind oder nicht. Dutzende Apps wetteifern um die Aufmerksamkeit der Nutzer, das Handy piept und vibriert im Stundentakt.

Neben Messengern und Plattformen versuchen auch klassische Medien, Menschen mit Eilmeldungen und Leseempfehlungen zu erreichen. Das alles zusammen kann sich überfordernd anfühlen. Dann hilft es, einige Benachrichtigungskanäle abzudrehen oder Pausenzeiten vorzugeben, in denen das Smartphone stumm bleibt. Braucht es um 22 Uhr wirklich noch Breaking News, um gut informiert schlechter zu schlafen?

2. Bildschirmzeit beschränken

Die Debatte um Smartphones und mentale Gesundheit dreht sich meist um Jugendliche und soziale Medien. Doch auch Erwachsene können betroffen sein, und zu viele Nachrichten können genauso schädlich sein wie die Dauerberieselung auf Instagram. Kurzfristig profitieren Nachrichtenorganisationen, wenn Menschen alle fünf Minuten F5 drücken – nachhaltig und gesund ist das eher nicht.

In den Einstellungen von Android und iOS kann man sehen, wie oft man bestimmte Apps öffnet und wie viel Zeit man damit verbringt. Nachrichtenkonsum sollte kein Automatismus sein, sondern eine bewusste Entscheidung. Apps wie One Sec und Screen Zen können helfen, sich dieser Übersprungshandlungen bewusst zu werden. Sie blockieren andere Anwendungen nicht komplett. Stattdessen muss man kurz warten, eine Atemübung machen oder eine kleine Aufgabe lösen. Während der Zwangspause merkt man: Eigentlich würde ich meine Zeit lieber anders verbringen.

3. Informationen bewusster auswählen 

Wenn man stündlich Nachrichten checkt, Eilmeldungen und Liveticker liest, jeden Trump-Tweet sieht und genau weiß, welche Politikerin gerade wozu Stellung genommen hat, dann ist man zweifellos gut darüber im Bilde, was gerade die Nachrichten dominiert. Doch viele Informationen führen nicht unbedingt dazu, dass man besser informiert ist und die größeren Zusammenhänge versteht.

Manchmal ist weniger mehr. Im Zusammenspiel aus digitalen und sozialen Medien können Nichtigkeiten zu Nachrichten werden und ungeschickte Äußerungen Empörungswellen auslösen. Vieles davon hat wenig Substanz und ist einige Tage später schon wieder vergessen. Wer das Rauschen reduzieren möchte, kann versuchen, das eigene Medienmenü zu entschleunigen. Oft reicht es völlig, einige Stunden oder Tage später eine Einordnung zu lesen oder einen Podcast zu hören, der Atemlosigkeit durch Analyse ersetzt.

4. Ein realistisches Weltbild entwickeln

Wer die Nachrichten liest, kann das Gefühl bekommen, dass die Welt am Abgrund steht. Tatsächlich gibt es auch Anlass zur Hoffnung. Armut, Hunger, Kindersterblichkeit, tödliche Krankheiten und Verbrechen sinken seit Jahrzehnten. Dafür steigen in vielen Ländern die Lebenserwartung, Alphabetisierungsrate, Schulquote und die Zahl der Demokratien. Global betrachtet geht es den meisten Menschen immer besser.

Im Strudel der schlechten Nachrichten gehen diese Entwicklungen schnell unter. Medien fokussieren sich häufig auf Krisen, Kriege und Katastrophen – auch, weil Menschen sich viel stärker dafür interessieren als für gute Nachrichten. Trotzdem kann es helfen, innerlich einen Schritt zurückzutreten und sich klarzumachen, dass viele Dinge richtig gut laufen.

5. Austausch suchen und Pausen machen

Geteilte Verzweiflung ist halbe Verzweiflung. Wenn die schlechten Nachrichten mal wieder überhandnehmen, hilft es, mit Freundinnen oder Bekannten darüber zu sprechen. Denen geht es im Zweifel genauso. Das ändert nichts an der Tatsache, dass es gerade viele Gründe gibt, sich Sorgen zu machen. Doch zu spüren, dass man mit diesem Gefühl nicht allein ist, kann ein wenig Trost spenden.

Manchmal braucht es nicht nur Austausch, sondern eine Auszeit. Die Weihnachtstage und die ruhige Zeit zwischen den Jahren sind ein guter Anlass, den Nachrichtenkonsum zu beschränken. Niemand muss 365 Tage im Jahr über alles Bescheid wissen, was auf der Welt geschieht. Nachrichtenfreie Zeiten können helfen, dass man sich erst gar nicht nach einem nachrichtenfreien Leben sehnt.