Das Gedeck für den unerwarteten Gast
Als wir Weihnachten noch in Berlin bei meinen Eltern feierten, pflegte meine Schwester das Ritual, ihre Blockflöte das ganze Jahr über konsequent nicht anzurühren, um sie Heiligabend hervorzuholen und sich an immer wieder derselben Stelle von „Kommet, ihr Hirten“ zu verspielen; mein Ritual bestand darin, mich darüber halb tot zu lachen. Es gab nachmittags Kaffee und Kuchen und abends, wie in Berlin weit verbreitet, Kartoffelsalat mit Würstchen, am ersten Feiertag dann die Gänsekeule.
Seit vielen Jahren verbringen wir nun die Weihnachtstage in Polen, wo ich ganz neue Traditionen kennengelernt habe. Kein Weihnachtsmann kommt hier und kein Christkind, den Startschuss für die Bescherung gibt der erste Stern, der am Himmel erscheint; mit der Feststellung, dass der Himmel bedeckt sei und mangels Sternsichtung die Bescherung ausfallen müsse, kann man kleinere Kinder ganz gut necken, doch so etwas würden wir natürlich niemals tun. An Heiligabend biegt sich der Tisch unter mindestens zwölf verschiedenen fleischlosen Speisen, vom russischen Salat bis zu mit Kartoffeln und Käse gefüllten Piroggen. Karpfen gibt es keinen mehr, seit die Großmütter nicht mehr leben.
Eine Tradition, die mir sehr gefällt, ist das zusätzliche Gedeck auf dem Tisch für den Fall, dass ein unerwarteter Gast auftaucht. Für viele Familien symbolisiert das Gedeck aber auch die Verwandten, die verstorben sind; auch bei uns müssen sich den leeren Teller leider immer mehr Menschen teilen. Die in Deutschland so populäre polnische Weihnachtsgans wird in Polen selbst gar nicht verspeist, was mich, da ich kein Fleisch mehr esse, nicht bekümmert. Vor dem Essen kommt noch das Oblatenbrechen, jeder bricht ein Stück von der Oblate des anderen ab und teilt ihm mit, was er ihm fürs neue Jahr alles wünscht, und jetzt, wo ich das aufschreibe, fällt mir ein: Ich muss mir mal ein paar anspruchsvollere polnische Wünsche heraussuchen als immer nur „Alles Gute und viel Gesundheit“.
Jörg Thomann
Jedes Jahr die Frage: Passt der Baum ins Auto?
Jedes Jahr an einem der Adventswochenenden fahren wir in den Hintertaunus, ausgerüstet mit Gummistiefeln, Arbeitshandschuhen, Säge, Axt und Plätzchen, um unseren Weihnachtsbaum selbst zu fällen. Auf der Fahrt hören wir Weihnachtslieder und trällern mit. Sobald wir am Waldrand geparkt haben und uns ins Dickicht der Tannen bewegen, folgt wohl die eigentliche Tradition:
„Der ist doch schön, lass uns den direkt nehmen.“
„Nein, da gibt es sicher noch schönere“
„Nee, keine gerade Spitze.“
„Aber der ist hier ist doch toll dicht.“
„Aber groß, meinst du, der passt ins Auto?“
„Dann der dahinten vielleicht, kommt mal?“
„Oh ja, der ist schön!“
„Kinder, wie findet ihr den?“
„Zu klein und zu krumm.“
„Ach Quatsch, den nehmen wir.“
„Er hat irgendwie recht, perfekt ist er nicht.“
„Lass uns noch mal schauen.“
„Ich bleibe an dem Baum stehen, den finden wir sonst nie wieder.“
„Doch, den finden wir schon.“
„Ach guckt mal hier, der ist toll!“
„Ich fand den anderen schöner.“
„Mit der komischen Spitze?“
„Wollte nicht einer dort stehenbleiben?“
„Mhh…“
Lucia Schmidt
Schön anstellen beim Geschenkeauspacken
Bescherung mit kleinen Kindern gleicht einem Gemetzel: Sobald die Geschenke zum Auspacken freigegeben sind, stürzen sich alle auf sie, und ein paar Minuten später hat sich das Stillleben aus Weihnachtsbaum mit liebevoll eingepackten Päckchen darunter in einen Haufen Altpapier verwandelt. Von Besinnlichkeit oder auch nur festlicher Stimmung keine Spur.
Deshalb haben wir vor ein paar Jahren angefangen, die Geschenke nicht simultan, sondern nacheinander auszupacken. Das jüngste Familienmitglied darf anfangen und wählt danach ein Geschenk für das nächstältere Familienmitglied aus und so geht es dann weiter, immer schön der Reihe nach. Das hat nicht nur den Vorteil, dass die Bescherung feierlicher ist als der kollektive Sturm auf den Baum. Es hat auch zur Folge, dass jedes einzelne Geschenk viel stärker gewürdigt wird, ganz egal ob man es selbst oder ein anderer empfängt. Denn geteilte Freude ist ja bekanntlich doppelte Freude.
Judith Lembke
Unser Christkind ist da – und zerpflückt die Zweige
Fünf Jahre haben wir gebraucht, bis wir es geschafft hatten, uns mal einen eigenen Weihnachtsbaum zu besorgen. Warum sollten wir auch? Die Feiertage verbrachten wir bei den Eltern, dort gab es Baum und Kerzen und Kränze und Braten. Im vergangenen Jahr fühlte sich dann alles ganz erwachsen und komisch an: ein eigener Baum, in den eigenen vier Wänden, dann warteten wir auch noch auf die Geburt unseres persönlichen Christkinds.
In diesem Jahr ist alles anders: Jetzt sind wir die Eltern. Eltern allerdings eines Kinds, das es besonders schön findet, Pflanzen auseinanderzupflücken, an Zweigen zu ziehen und sich Hände voller Erde in den Mund zu schieben. Darum wird die neue alte Tradition des eigenen Baums in diesem Jahr noch mal ausgesetzt, das Kind wird ersatzweise die großelterlichen Bäume attackieren, und wir freuen uns trotzdem besonders aufs Fest: Weihnachten endlich wieder durch Kinderaugen betrachten. Und dabei neue Traditionen schreiben.
Johanna Dürrholz
Heiligabend mit dem Wichtel-O-Mat
Meine Schwägerin kam vor einigen Jahren auf die Idee: Anstatt dass sich die Schwieger- und Schwippschwiegerverwandtschaft an Heiligabend untereinander beschenkt, könnten wir doch wichteln. Keinen Schrott, sondern jeweils ein Geschenk im Wert von 50 Euro, etwas, was gut überlegt ist. Vor dem Überreichen beschreibt man seinen zu beschenkenden Wichtel ein wenig, damit alle mitraten können. Dabei ist es geblieben. Mittlerweile stellt sich die Frage gar nicht mehr, die Mail via Wichtel-O-Mat kommt wie selbstverständlich von einem von uns Ende November.
Die Kinder sind von dieser Regel, nur ein einziges Geschenk an Heiligabend zu bekommen, natürlich ausgenommen, dabei sind ausgerechnet sie seit Wochen im Wichtelfieber. Wie in Tausenden anderen deutschen Haushalten hat die Wichtel-Tradition aus Skandinavien bei uns Einzug gehalten, sodass meine Kinder morgens vor der schweren Entscheidung stehen, erst mal zum Adventskalender zu laufen oder an der Wichteltür neben dem Sofa nachzuschauen, was über Nacht passiert ist: „Der Wichtel hat Mandarine gegessen!“, „Der Wichtel hat mit meinen Autos gespielt!“ In der Kita wird ihnen mehr geboten: Da hat der Wichtel in seinem wunderschönen Wichtelvorgarten einen Kinoabend veranstaltet, Waffeln gegessen und die Reste übrig gelassen, Pizza gebacken. Da ist der Wichtel sogar so flexibel, den Pizzasnack für alle Kinder zu verschieben, als neulich wegen Personalnot um früheres Abholen gebeten wurde. Er teilte ihnen seine Gründe per Brief mit.
An Heiligabend muss ich mich in diesem Jahr beim Wichteln unter uns Erwachsenen auch erklären. (Liebe Familie, bitte jetzt nicht weiterlesen.) Vermutlich habe ich die E-Mail-Adressen bei der Auslosung in derselben Reihenfolge wie im letzten Jahr in den Wichtel-O-Mat getippt. So hat auch jeder wieder den gleichen Wichtel.
Jennifer Wiebking
Mit Geschenkband im Haar es richtig krachen lassen
Wann genau es angefangen hat, weiß ich nicht mehr. Aber es gibt ein Foto aus pausbäckigen Studentinnenzeiten, auf dem meine Schwester und ich uns goldene Geschenkbänder in die Haare gebunden haben wie fröhliche Hippie-Engel. Weihnachten war mit meiner nicht unkomplizierten Familie schon immer das Fest der Feste. Mögen andere sich in Konsumverzicht oder Besinnlichkeit üben. Wir lassen es krachen. Geschenke, Sekt und ein übervoller bunter Teller: Ich kann gar nicht genug von allem kriegen. Der Weihnachtsbaum ist jedes Jahr der schönste.
Seit ich selbst Kinder habe, folgt die Party des Jahres vom Mittagssüppchen bis zur Christmette mehr oder weniger demselben Ablauf. Aber der Höhepunkt bleibt die Bescherung: Schenken und Freuen als Ausdruck von Liebe und Beziehung. Spätestens wenn ich mein erstes Päckchen öffne und mir die Schleife um den Kopf knote, schlägt die Erwartung in Ausgelassenheit um. Der Alkoholpegel steigt, und aus bunten Bändern werden Ketten, Gürtel und Armschmuck, aus Geschenkanhängern Ohrringe. Zumindest der weibliche Teil der Familie macht mit. Sieht affig aus? Umso besser! Frohes Fest!
Julia Schaaf
Mein Weihnachten? Dein Weihnachten?
Es wurde alles anders, als wir Kinder bekamen. Vorher feierten mein Mann und ich Weihnachten Freestyle, mal bei meinen Eltern, mal bei seinen Eltern. Mit Kindern begann das Dilemma: mein Weihnachten oder dein Weihnachten? Es ging beim Essen los: Würstchen mit Kartoffelsalat („Wie spießig!“) oder Fleischfondue („Siebziger-Jahre-Scheiß!“)? Den Baum erst an Heiligabend schmücken oder schon vorher? Nur Weihnachtskugeln oder bunt gemischt? In die evangelische oder katholische Kirche? Kommt das Christkind oder der Weihnachtsmann? Erst Geschenke auspacken oder erst essen? Es dauerte, bis wir uns als Familie zurechtruckelten.
Heute ist Weihnachten ein Kompromiss aus allem: Kartoffelsalat an Heiligabend. Fondue am ersten Weihnachtsfeiertag. Jeder darf mal den Baum schmücken. Erst Geschenke auspacken, dann essen. Endgültig zu „unserem“ Weihnachten wurde es, als die Kinder auch noch mitmischten und ihre eigenen Wünsche äußerten: Können wir nicht den Weihnachtsbaum schon vor dem 24. aufstellen? Seitdem holen wir den Baum schon ein paar Tage früher, schmücken ihn gemeinsam und haben so ganz nebenbei einen entspannten Heiligabend.
Anke Schipp