Die Räume sind schon leer gefegt. Vor wenigen Wochen stapelten sich hier noch bunte Kinderträume. Selbst die Regale sind stellenweise abgebaut. Freya (88) und Carmen Witte (65), Mutter und Tochter, sitzen in ihrem kleinen Büro.
Der Abschied von eurem Geschäft fällt uns schwer, das merkt man überall. Warum ist unser Kummer so groß?
Freya Witte: Ich denke, der Kummer ist so groß, weil dieses Geschäft mit so viel Liebe geführt worden ist. Ich glaube auch, das findet man heute so nicht mehr oder nur ganz selten. Manchmal haben wir spätabends noch Dinge möglich gemacht – und die Tochter hat einen ganz tollen Job gemacht und macht ihn noch immer.
Carmen Witte: Der Kummer ist, denke ich, auch deswegen so groß, weil das hier über Generationen ging. Du kennst das ja auch: Du warst immer mit deinen Kindern da, wir kennen deinen Bruder noch ganz klein; vermutlich war auch dein Vater, vielleicht selbst dein Großvater, schon hier. Wir hatten sogar Kunden, die an bestimmten Tagen kamen, um von bestimmten Mitarbeiterinnen bedient zu werden. Ich denke, das macht es so schwer – die Tradition und die Bindung, die über Jahre hinweg gewachsen ist.
Könnt ihr erzählen, wie das am Tag der Entscheidung lief?
Carmen Witte: Der Entschluss war nicht neu. Wir haben uns schon seit 2017 mit der Nachfolgeregelung beschäftigt, aber im vergangenen Sommer war es dann irgendwann klar, dass es nicht weitergeht. Auch unsere Mitarbeiterinnen wussten schon davon. Wir haben uns auch um eine Nachfolgeregelung für das Gebäude bemüht. Wir hatten, das muss der 17. Juni gewesen sein, Familienrat und haben dann sofort am Montag die Mitarbeiter informiert. Die Woche darauf war dann schon Teamsitzung. Da haben wir darum gebeten, dass wirklich niemand etwas sagt, weil wir nicht wollten, dass es vorab rausgeht. Und dann haben wir noch das richtige Datum gesucht.
Freya Witte: Das war nicht so einfach: Im August konnten wir nicht schließen, da waren Ferien. September ging auch nicht, da war Einschulung. Im November hatte es überhaupt keinen Sinn, weil das Weihnachtsgeschäft schon angelaufen ist.
Wie waren die Reaktionen?
Freya Witte: Also ich dachte schon: Wohin jetzt mit der Zeit? Wir wohnen ja über dem Laden, und ich war immer Ansprechpartner für meine Tochter und habe die Preisschilder geschrieben. So diese kleinen Sachen. Aber jetzt kam ich runter und keiner war mehr da …
Carmen Witte: … Mutti, er meint die Kundinnen und Kunden.
Freya Witte: Ja, ach so. Also, ich darf mich hier nicht in Traurigkeit ergeben. Aber die ganzen kleinen Kinder werden mir fehlen. Und die ältere Generation auch. Die Leute kamen ja auch in den Laden und sagten, was ihr macht zu? Und dann flossen richtig die Tränen, das kann ich gar nicht gut ab.
Wenn ihr an das Weihnachtsgeschäft denkt, seid ihr praktisch vom Fach: Haben sich die Wünsche der Kinder und die Ausgaben der Eltern im Laufe der Jahre verändert?
Freya Witte: Die Wünsche der Kinder waren früher oft viel bescheidener. Manchmal war es etwas ganz Einfaches, wie neue Bettwäsche für das Puppenbett. Ich habe den Laden 1957 übernommen, da gaben die Eltern noch nicht so viel Geld aus wie heute.
Carmen Witte: Vor allem wurde nicht zwischendurch immer so viel geschenkt. Da gab es nur was an Weihnachten und Geburtstag …
Wie kann man sich Weihnachten in einem Spielwarengeschäft vorstellen?
Carmen Witte: Damals lief Weihnachten noch anders. Unser Wohnzimmer wurde eine Woche vor Weihnachten abgesperrt, damit wir die Überraschung bis Heiligabend bewahren konnten.
Freya Witte: Der Baum wurde erst am Abend vorher aufgestellt, und es herrschte diese ganz spezielle Atmosphäre.
Carmen Witte: Ich erinnere mich, dass meine Eltern immer die Schaufenster dekorierten, die vor der Hubertusjagd Ende Oktober fertig sein mussten, weil mein Vater dann reiten ging. Das war immer risikobehaftet! Ab und zu kam er mit Brüchen zurück …
Freya Witte: … das stimmt. Als du den Laden übernommen hast, waren die Fenster immer erst zum ersten Advent geschmückt, und die kleine Eisenbahn durfte auch erst dann fahren. Da warst du viel strenger. Und zu meiner Zeit kamen die Eltern noch alleine und suchten aus dem Bestand aus, was sie zu Weihnachten schenken könnten. Heute wissen die Kinder schon, was sie kriegen. Die Eltern kommen mit einer detaillierten Liste ins Geschäft. Ich habe Großeltern erlebt, die regelrecht panisch wurden, wenn man das nicht bekommen konnte, was die Kinder oder Enkelkinder ihnen aufgeschrieben haben.
Kann man das nicht einfach alles bestellen?
Carmen Witte: Früher gingen meine Eltern auf die Messe und kauften im Februar praktisch für das ganze Jahr ein. Ein- bis zweimal im Jahr kam ein Vertreter, aber das war’s dann auch. Heute ist es so: Lego hat Produktionswochen und wenn man nicht früh genug in die Vororder geht – und bei Neuheiten auch den ganzen Satz abnimmt –, bekommt man nichts mehr. So ist das Geschäft.
Was hat sich noch verändert bei den Kindern von heute?
Carmen Witte: Wir haben ja diese Geschenkboxen. Also Boxen, in die Geburtstagskinder alles einsortieren, was sie sich zum Geburtstag wünschen, und die anderen Kinder können dann was herausnehmen und wissen, was sie schenken können. Heute kommen Kinder in den Laden, die diese Boxen ausgewählt haben, und gucken, was noch drin ist. Damit sie wissen, was sie bekommen. Das ist so ein bisschen wie mit der Weihnachtszeit, finde ich: Man sollte nicht immer wissen, was man bekommt. Dann geht doch der Reiz verloren.
Freya Witte: Das finde ich auch. Heute geben Eltern oft gedankenlos sehr viel Geld aus, nach dem Motto: bevor du mich quälst. Man darf aber durchaus auch mal zu den eigenen Kindern sagen, das ist viel zu teuer. Oder viel zu viel.
Carmen Witte: Pädagogisch fände ich das sogar wichtig. Ich habe meinem Sohn zu Ostern mal gesagt, als er meinte, andere Kinder bekommen viel mehr: Unser Hase kann halt nicht so viel tragen. Punkt.
Wenn ihr zurückdenkt an euren Laden: Was waren die Allzeit-Bestseller?
Freya Witte: Zu Beginn natürlich Lego. Später, als in den Siebzigern Playmobil aufkam, haben die Kinder ihre Eltern regelrecht gedrängt, die kleinen Figuren zu kaufen. Aber auch einfache Holzspielzeuge oder Puppenhäuser waren gefragt. Die Eltern wollten oft, dass die Kinder etwas hatten, womit sie ihre Phantasie anregen konnten. Zum Beispiel Fischertechnik.
Freya Witte: Stimmt, Pokémon!
Carmen Witte: Da war ich ja auch so richtig drin, nachdem man uns das vorgestellt hatte. Das haben meine Kinder geliebt. Und ich kannte jedes Pokémon mit seinen Werten. Ich wurde sogar mal von der Polizei angehalten, weil ich mich nach hinten zu den Kindern gedreht habe. Und als der Polizist meinte, warum ich das mache, habe ich gesagt: Glumanda entwickelt sich auf Level 16 zu Glutexo.
Freya Witte: … Monchhichis …
Carmen Witte: Als die Monchhichis aufkamen, konnten wir die gar nicht schnell genug nachkriegen, so rasend war der Absatz. Wir hatten einen Kollegen aus Bremerhaven, der hat die direkt vom Schiff runtergeholt, praktisch aus der Ladung gezogen. Monchhichis waren eine Revolution. Das war irre. Ich habe meins zum Abitur gekriegt, 1979, da war ich ja schon alt, aber den habe ich immer noch.
Freya Witte: Und dann später dieser ganz große Hit, wie hieß der noch?
Carmen Witte: Ich weiß, was du meinst.
Freya Witte: Ah, ich komme nicht drauf. Barbie war es nicht.
Carmen Witte: Nee, das war doch irgendeine Actionfigur, meine ich. Da haben wir so drauf gelauert, das weiß ich noch.
Freya Witte: Da mussten wir doch so hohe Stückzahlen abnehmen, sonst hätten wir die nicht gekriegt – und die wollten alle: da haben wir die 12.000 Mark von meiner Lebensversicherung genommen!
Carmen Witte: Nein, das war die Diddlmaus! Das war 2001. Da standen die Leute schon die halbe Fußgängerzone hoch vor unserem Laden, bevor wir aufgemacht haben – weil du diese total peinliche Werbeanzeige in der Zeitung geschaltet hattest. Wie ging das noch: „Die Kunde geht von Haus zu Haus, bei Witte gibt’s die Diddlmaus!“ Da hätte ich sie fast gekillt.
Freya Witte: Die Leute sind gekommen, die ausgeschnittene Anzeige in der Hand, da haben die Vertreter noch die Regale eingeräumt …
Carmen Witte: Ja, das hatte ich auch noch nie erlebt. Die haben den Vertretern die Mäuse aus den Kartons gerupft, an einem Tag war alles leer.
Dann kam das Digitalspielzeug?
Carmen Witte: Ja! Das Tamagotchi hatten wir auf der Messe gesehen und beschlossen: Das brauchen wir nicht. Später haben wir uns durchgerungen und gesagt, nehmen wir mal 24 Stück! Da hat der Vertreter gesagt, Frau Witte, das reicht nicht. Und dann haben wir 148 abgenommen. Wir hätten 1148 haben können, die hätten nicht gereicht. Da kamen die Anrufe von München bis Flensburg, weil es plötzlich bundesweit keine Tamagotchis mehr gab! Die hatten sich alle verschätzt wie wir.
Freya Witte: Ich saß dann im Garten, mit so einem doofen Tamagotchi um den Hals. Wir hatten eins an der Kasse, um es den Leuten zu zeigen. Und das wollte eben gefüttert und betüddelt werden, damit es nicht stirbt.
Freya Witte: … da musste eben die Mutter ständig mit dem doofen Tamagotchi um den Hals rumlaufen! Dauernd hat es gepiept.
Carmen Witte: (lacht) Mein Sohn Lars wurde operiert und musste drei Tage zu Hause das Bett hüten. Das war die perfekte Gelegenheit für das Tamagotchi. Nach einem halben Tag, glaube ich, hat er es abgegeben und gesagt: Ich will mich nicht mehr kümmern!
Ihr habt vorhin gesagt, Weihnachten lebt auch von Überraschungen: Habt ihr einen guten Rat für Eltern, damit man mal wieder etwas Unerwartetes schenken kann?
Carmen Witte: Wir haben den Eltern immer geraten: Fragt im Kindergarten nach, fragt die Erzieherinnen, womit euer Kind gerade spielt. Die betreuen es faktisch ja länger als wir Eltern – und kennen es genau. Mit welchen Sachen spielt es gerne, ist es ein Gesellschaftsspiel- oder ein Draußenkind?
Wenn man als Mutter und Tochter zusammen einen Laden führt: Ist das eher einfach oder eher schwierig?
Freya Witte: Ich bin 88. Meine Tochter ist immer mit allem so schnell, da komme ich nicht mit. Die hat immer so Dampfwolken unter den Füßen und meint, wenn sie mir was zwischen Tür und Angel sagt, verstehe ich das auch. So schnell bin ich aber nicht mehr! Ich würde gerne meine Ruhe haben, aber das geht mit dir nicht!
Carmen Witte: (lacht) … beim Zusammenarbeiten muss man seiner Mutter eben auch beibringen, dass man nicht mehr das Kind ist. Das ist wie im Leben.
Wenn ihr an euer Berufsleben zurückdenkt: Was war die schönste Zeit?
Carmen Witte: Die hatten wir tatsächlich während Corona. So schlimm die Zeit auch war, wirtschaftlich und alles; wir hatten uns. Wir hatten kein Personal, aber wir waren ein Haushalt, also durften wir ran. Tagsüber standen wir im Laden und abends haben wir mit dem Auto die Bestellungen ausgefahren. Wir haben Abenteuer zusammen auf Feldwegen erlebt … es war einfach wunderbar.
Freya Witte: Ja, das war wirklich schön und besonders. Ich muss auch mal sagen: Wenn man so eine Tochter hat und wenn man sieht, wie sie im Alter noch für mich da ist – allein das Abendessen jeden Abend ist besser als jedes Hotel! Ich werde so von dir so umsorgt, dass man es wirklich nicht besser haben kann. Das wollte ich dir noch mal sagen.
Carmen Witte: Ach, Mutti.