

Ob Thomas Müller schon in der Water Street oder in der Robson Street war? Wahrscheinlich. Vielleicht auch in der Gastown oder im Chinesenviertel? Warum nicht. Er wird sich, seitdem er neuerdings in Vancouver bei den Whitecaps Fußball spielt, in seiner Freizeit sicherlich in dieser herrlichen Stadt umschauen, und er wird viel entdecken, bestimmt auch ein Wirtshaus, wo es das heimische bayerische Bier gibt.
Vancouver ist – die Briten haben’s herausgefunden – nach Zürich und Genf die Stadt mit der höchsten Lebensqualität in der Welt. Etwa so groß wie Stuttgart, ist sie die drittgrößte Stadt Kanadas. Vancouver hat, wo 2010 die Olympischen Winterspiele stattfanden, in der Tat einen einmaligen Freizeitwert.
Nicht nur das. Vancouver ist ein Gesamtkunstwerk. In nur 120 Jahren an der Pazifikküste entstanden und seit der Weltausstellung 1986 runderneuert, ist Vancouver eine Stadt mit viel nebenher. Da ein eigentliches Zentrum fehlt, ist man offen nach allen Seiten. Es ist nie weiter als fünf oder sechs Blocks bis zum Meer. Das macht den Verstand frei – und belebt. Immer wieder wechseln die Nuancen. Doch gerade durch diese Sprünge erhält Vancouver eine Silhouette: jung und elegant, spritzig und elegisch, abgeklärt und gesellig, puristisch und verspielt.
Vancouver ist eine Stadt, die man nicht karikieren kann. Sie ist schön, zum Schlürfen schön. Die Menschen dort scheinen das zu wissen, aber sie sagen es nicht weiter. Warum auch? Es ist überall mit Händen zu greifen. Links das Meer und rechts die Berge. Der Freizeitwert ist enorm. Das wird sich Thomas Müller nicht zweimal sagen lassen. Im Sommer hat er das Wasser, im Winter hat er den Schnee.
Es darf aber auch Kultur sein. Die 1995 von Moshe Safdie erbaute Bibliothek ist eine der schönsten der Welt. Dem Kolosseum in Rom nicht ganz unähnlich, nimmt man unten zu einem Espresso Platz, um sich danach durch Bücher und Zeitschriften zu wühlen. Vielleicht aber gefällt es Müller draußen beim Anthropologischen Museum besser, bei den Totempfählen der Indianer, um sich auf einen stummen Dialog, über Zeiten und Zonen hinweg, einzulassen.
Zurück in der nicht gar so alten Altstadt. Die heißt Gastown, nicht weil es hier nach Gas riecht, sondern weil ein gewisser Jack Deighton, ein früherer Saloon-Besitzer, besonders „gassy“, das heißt geschwätzig, war. Und schon sitzt man in einer Bar, oder man lässt sich von den Geschäften der Water Street ansaugen und ist plötzlich bei Richard Kidd drin. Das ist kein Laden, sondern ein Atrium aus Glas, auf jeden Fall einer der extravagantesten Mode-Shops des Kontinents. Zwei Blocks weiter geht es ins Chinesenviertel. Die hiesige Chinatown ist nach San Francisco die zweitgrößte Nordamerikas. Man muss die Hastings Street überqueren, nicht jedermanns Sache, und zwar wegen der unzähligen Drogentypen, die auf dem Trottoir kauern, liegen, torkeln oder auch nur hungern. Die meisten lassen einen unbehelligt, nur einzelne machen einen an oder schimpfen hinter einem her.
Doch gleich um die Ecke wird es chinesisch, es grüßen Lampions, es riecht asiatisch. Auch wer kein Medikament braucht, sollte eine Apotheke à la chinois aufsuchen. Die ganze Wand lang Töpfe und Gläser, gefüllt mit Gesundheit: Haifischflossen für die Gelenke und für die Haut, Vogelnester aller Art, mit viel Protein, gegen Falten und andere Laster, wenn auch nicht ganz preiswert, oder niedliche, getrocknete Seepferdchen, sie helfen gegen Mumps und Prostatitis. Sagt man.
Tapetenwechsel, es ist Zeit für einen Kaffee oder einen Drink. Den nimmt man nicht irgendwo ein, sondern im legendären Fairmont Hotel. Man zahlt einen sündigen Preis, fühlt sich aber im Plüsch der Jahrhundertwende unglaublich wohl. Und gestärkt für die Robson Street, die Hauptgeschäftsstraße.
Nicht nur in der Robson Street gibt es unzählige Menschen, die flanieren. Menschen, die es genießen, hier zu sein. Europäische Gesichter, chinesische Gesichter, indigene Gesichter, dunkelhäutige Gesichter. Multikulti ist in Vancouver kein Programm, sondern Realität. Erwünschte Realität. Die Stadt lebt vom Zuzug fremder Menschen, frischer Ideen. Das kann Thomas Müller nur recht sein.
Von Vancouver bieten sich Abstecher an. Der eine geht nach Seattle in die USA, die Stadt von Bill Boeing, Bill Gates und Jimi Hendrix. Oder es bietet sich ein Ausflug den Howe-Sund entlang und hinauf bis nach Squamish mit einem riesigen Granitmassiv, das bei Bergsteigern sehr beliebt ist – ob auch bei Fußballspielern, müsste noch geklärt werden.
Der dritte Abstecher ist der nach Victoria. Und er lohnt sich wirklich sehr. Zwar ist Victoria ein bisschen schläfrig und altmodisch oder, wie Krimiautor Raymond Chandler sagte, „todlangweilig, wie eine englische Stadt am Sonntag“. Aber Victoria ist nun einmal die Hauptstadt der Provinz Britisch-Kolumbien (zu der auch Vancouver gehört), ausgestattet mit pompösem Parlamentsgebäude, und es liegt herrlich auf einer Insel, mit der Fähre durch einen gewundenen Fjord zu erreichen.
Allein schon diese Überfahrt ist ein Erlebnis. Aber erst recht das „Whale Watching“. Tausende von Walen – genauer gesagt Orcas – „kreuzen“ vor der Küste, während man sie von Booten aus beobachten kann. Zunächst zeigt sich nur ein Haufen Seehunde, die sich auf einem Felsenriff lümmeln, dann sind es ein paar Seelöwen, die dösen und spielen, sowie Seeadler, die majestätisch kreisen. „Da hinten!“ schreit es plötzlich wie aus einem Munde. Tatsächlich, gar nicht so weit weg, sind sie zu sehen, eine Schar buckliger, schwimmender Inseln: die Wale.
Schwarz der Rücken und die Flosse, weiß der Bauch, wenn sie sich drehen. Als würde es ihnen großen Spaß machen, ihre Kunststückchen aufzuführen: Wie sie prusten, wie sie tauchen! Dann schnellen sie aus dem Wasser, manchmal kerzengerade hoch in die Luft. Wuchtige Kolosse mit federnder Eleganz. Als hätten sie das Synchronschwimmen erfunden, so pflügen sie durch das Wasser. Gurgelnd. Die Schwanzflosse klatscht.
Thomas Müller wird sich das alles bestimmt nicht entgehen lassen wollen. Zurück nach Vancouver geht es passenderweise mit dem Wasserflugzeug. Es dümpelt gleich neben dem Wal-Revier. Ein paar Formalitäten, schon gleitet die Maschine übers Wasser den Hafen hinaus, nimmt Anlauf, löst sich und schwebt davon. Eine halbe Stunde später landet es in Vancouver, nicht draußen am Flughafen, sondern downtown, also im Zentrum, nur sechs Blocks von der Robson Street entfernt. Wo gibt’s das sonst noch? In München nicht, in Hamburg nicht, dass man mit dem Flugzeug sozusagen bis vor die Haustür fliegt.
