Der Herbst ist Wanderzeit. Ein beliebtes Ziel dabei ist die Rhön östlich und südlich von Fulda. Hier locken endlose Wälder in dünn besiedelter Landschaft. Immer wieder ermöglichen Aussichtspunkte einen beeindruckenden Blick auf die hügelige Gegend.
Doch an manchen Stellen bleiben Wanderer verwundert stehen. Sie entdecken Seltsames, das so gar nicht zu einer unberührten Natur passt. Da sehen sie plötzlich einen massiven Betonklotz, stark verwittert und teilweise mit Moos bewachsen. Es sind die Reste einer Autobahnbrücke.
Reste einer Autobahnbrücke
Fertige Brücke im Grünen
Stark verwittert und mit Moos bewachsen
53 solcher Straßen-Bauwerke finden sich in den Wäldern und auf den benachbarten Feldern der Rhön. Sie reihen sich wie an einer Schnur von Nord nach Süd auf. Es sind nicht immer Brücken, manchmal stehen auch Brückenpfeiler einsam ohne Brücke in der Landschaft.
Brückenpfeiler ohne Brücke im Saaletal: Heute klettern hier die Mitglieder des Alpenvereins.
Den mittleren Abschnitt kennt niemand besser als Dieter Stockmann. Er hat ein Buch darüber geschrieben. Der heute Sechsundsechzigjährige war in den Neunzigerjahren im Landratsamt Karlstadt am Main für die touristische Vermarktung des nahen Naturparks einschließlich der Autobahnruine zuständig. Einige Kommunen warfen ihm damals vor, ein Mekka für Neonazis zu schaffen. Später, als er die Arbeit privat fortsetzte, Führungen anbot und einen Verein gründete, unterstützten sie ihn.
Die ersten Arbeiten am mittleren Abschnitt begannen 1937, der Bau schritt schnell voran. „Die Brücken wurden aufwendig mit Verblendsteinen verkleidet, sie sollten hochwertig aussehen und als Vorbild für die Häuser der Umgebung dienen, was aber nicht gelang“, erzählt Stockmann. Mangels geeigneter Lastwagen wurden Gleise verlegt, damit Züge das Baumaterial anfahren konnten. Teilweise halfen auch örtliche Bauern mit Pferdefuhrwerken. Die für den Bau der Autobahn benötigten Grundstücke mussten die Einheimischen entweder verkaufen oder einfach zur Verfügung stellen. Viel Geld gab es dafür nicht, die Eigentümer mussten Bäume sogar auf eigene Kosten fällen. Nur der Freiherr von Thüringen, der über große Ländereien verfügte, wurde üppigst entschädigt.
Autobahnbaustelle 1939: Züge bringen das Material, ein Dampfbagger buddelt den Hang weg.Fotos: Bildarchiv Dieter Stockmann
Widerstand der Bevölkerung gegen den Bau, wie er heute bei einer neuen Autobahn üblich ist, gab es damals trotzdem nicht, und das nicht wegen drohender Repressalien des Nazi-Regimes. Sie unterstützte den Bau, weil er in der armen Gegend Arbeit brachte für Hilfskräfte, für den Materialtransport oder im örtlichen Sägewerk. Und das trotz schlechter Entlohnung. Die Bauern schufteten erst acht Stunden für den Autobahnbau und bewirtschafteten danach noch ihre Felder.
Ortsfremde Arbeiter wurden besser untergebracht als in den Anfangsjahren des Autobahnbaus in Deutschland. Vor 1936 mussten sie noch in Scheunen, Zelten und sogar Ställen schlafen, Privatunterkünfte gab es zu wenige und sie waren teuer. So wurde die Autobahn anfangs spöttisch als „Hunger- und Elendbahn“ betitelt, es kam zu Streiks. Beim Bau der Strecke 46 hatten die Verantwortlichen daraus gelernt, es wurden Arbeiterlager gebaut und mit Mindeststandards versehen. Unter 10 Grad musste die Heizung eingeschaltet werden, im Schlafraum durften nicht mehr als 20 Arbeiter übernachten. Er musste täglich gereinigt, und die Bettwäsche musste mindestens einmal im Monat ausgewechselt werden.
Eine Mär ist zudem, dass die Autobahnen vor allem für militärische Zwecke gebaut wurden. Die Wehrmacht war sogar anfangs gegen den Bau, weil die breiten, hellen Betonfahrbahnen für feindliche Flugzeuge gut sichtbare Ziele darstellten. Die ersten Autobahnen wurden auch zunächst fernab der Grenzen gebaut. Dadurch eigneten sie sich nicht für den Truppenaufmarsch. Auch die Strecke 46 lag weitab von jeder Front. Zudem war die Wehrmacht anfangs wenig motorisiert, es mangelte an Sprit. Der Transport per Eisenbahn war günstiger.
Trotzdem redete die Wehrmacht von 1937 an beim Bau mit. Manche Ausfahrt oder Rampe wurde nur aus strategischen Gründen errichtet. Brücken mussten mit Sprengkammern versehen werden, um sie im Notfall vor vorrückenden gegnerischen Soldaten in die Luft jagen zu können. Die Überführungen mussten zudem so stabil sein, dass der schwerste deutsche Panzer darüberfahren konnte. Allerdings hielten die Fahrbahnen die Belastung nicht aus. Als die Wehrmacht sie trotzdem mit schwerem Gerät befuhr, wurden die Abschnitte schwer beschädigt. „Die Autobahnen hatten für Deutschland im Zweiten Weltkrieg keine strategische Bedeutung“, folgert daraus Dieter Stockmann. Stattdessen fuhren am Ende des Krieges amerikanische Truppen darüber und nutzten sie als Behelfsflugplatz.
Problematisch für das Militär war zum Teil die abenteuerliche Streckenführung, auch auf der Strecke 46. Sie wies extreme Steigungen auf, die Autos nur mit höchstens 30 Stundenkilometern und Truppentransporter gar nicht hätten befahren können. Auch bis zu 90 Grad enge Kurven behinderten die Fahrt. Das war Folge eines bisher wenig beachteten Grundes für den Autobahnbau: Die Straßen sollten den Nutzern die Schönheit der deutschen Landschaft zeigen, die Idee des „Autowanderns“ war geboren.
Die Strecke 46 war exemplarisch dafür. Um spektakuläre Ausblicke auf die Rhön und imposante Burgen zu ermöglichen, wurde nicht die verkehrlich effizienteste und direkteste, sondern die touristisch schönste Streckenführung gewählt, egal wie steil oder kurvig die auch war. Der „Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen“, der Ingenieur Fritz Todt, schwärmte dabei vom Vorbild Irschenberg auf der heutigen A 8 bei Rosenheim, von dem Autofahrer einen spektakulären Blick auf die Alpen genießen – aber wegen der steilen Strecke im Winter auch häufig im Stau stehen. Parkplätze mit tollen Ausblicken sollten das „Autowandern“ fördern. Sie sahen teilweise Bereiche vor, auf denen die Autofahrer Zelte zur Übernachtung aufstellen konnten.
Hauptgrund für den Autobahnbau in Deutschland war für Adolf Hitler aber der Propagandaeffekt. Es war ein gut sichtbares, die Menschen einigendes Projekt, das die Größe und neue Macht Deutschlands symbolisierte. Und es sollte der „Volksmotorisierung“ dienen. Als 1933 Hitler an die Macht kam, gab es in Deutschland nur rund 500.000 Autos. Sie kosteten ein Vermögen, es war ein Luxus für wenige Reiche. Autobahnen waren dafür nicht nötig. Bis 1938 stieg die Zahl der Autos dann allerdings gerade einmal auf 1,3 Millionen, und weit weniger als zehn Prozent des Gütertransports lief über die Straße – Werte, von denen die Bahn heute träumen würde.
Hitler ist auch nicht der Erfinder der Autobahn, wie es die Propaganda behauptete. Er griff auf Pläne zurück, die private Vereine in den Zwanzigerjahren entwickelten und realisieren wollten. Sie wurden aus Geldmangel, der Angst vor Konkurrenz zur Reichsbahn und ideologischen Gründen aber nicht erlaubt. Sogar die Nationalsozialisten lehnten sie ab, weil die Vereine die Straßen mit einer Maut privat finanzieren wollten. Das war ihnen nicht sozialistisch genug.
Auch nach 90 Jahren ist die Trasse der alten Autobahn noch zu erkennen.
Gebaut wurden vor 1933 trotzdem zwei autobahnähnliche Strecken, von Köln nach Bonn und die Berliner Avus, die aber mehr eine Rennstrecke für reiche Autobesitzer darstellte. Es waren aber nicht die ersten in Europa. Die entstanden in Italien unter dem Mailänder Bauunternehmer Piero Puricelli. Weder Hitler noch Deutschland haben also die Autobahn erfunden, auch der Name ist nicht seine Idee. Er wurde 1929 von Robert Otzen vorgeschlagen, in Analogie zur Eisenbahn. Bis dahin hatte man von Nur-Autostraße gesprochen. Otzen leitete die Planung der privaten Autobahn Hamburg–Basel.
Nach Hitlers Machtergreifung entstanden in mehreren europäischen Ländern Autobahnen, aber niemand baute das Netz so energisch aus wie er. Finanziert wurde das durch Darlehen der Reichsbank, einen zehnprozentigen Aufschlag auf den Benzinpreis, die Plünderung der Arbeitslosenversicherung und die Deutsche Reichsbahn, die anfangs sogar für den Bau der neuen Konkurrenz zuständig war. Wie heute explodierten die Baukosten auch damals schon – um das bis zu Zehnfache.
Geplant war anfangs ein Netz von 7000 Kilometern bis 1942, später 20.000 Kilometer. Schon 1933 setze Hitler den ersten Spatenstich in Frankfurt für die Strecke nach Darmstadt. Fertig wurden bis Mai 1945 knapp 3900 Kilometer, weitere 2900 befanden sich bis in den Krieg hinein im Bau. Je näher der Krieg rückte, desto langsamer ging es voran.
Auch auf der Strecke 46 war das so. Die Bauarbeiten litten unter Material- und Personalmangel. Arbeiter wurden zu wichtigeren Autobahnbaustellen, zum Bau des Westwalls und mit Kriegsbeginn zur Wehrmacht abgezogen. Im Oktober 1939, wenige Wochen nach dem Überfall auf Polen, wurden die Bauarbeiten auf der Strecke 46 weitgehend eingestellt. Der mittlere Teil war im Rohbau fertig, für die komplette Fertigstellung wäre höchstens noch ein weiteres Jahr nötig gewesen, wenn die nötigen Ressourcen zur Verfügung gestanden hätten, schätzt Dieter Stockmann. Die stillgelegte Baustelle erfüllte dann doch noch einen militärischen Zweck. Sie überwucherte schnell mit Gras, das an anderer Stelle zur Begrünung von neuen Bunkern und Befestigungen verwendet wurde.
Nach dem Krieg plünderten das amerikanische Militär und die Bevölkerung Holz, Sand, Kies und Schotter, bauten Türen und Fenster von Bauhütten aus und gruben Entwässerungsleitungen aus. Die Bauern klauten den abgetragenen Mutterboden, der am Rand der Trasse lagerte, mussten aber beim ersten Starkregen feststellen, dass er organisch tot war, sofort wegschwemmte und die Felder ruinierte. Zu Ende gebaut wurde die Strecke 46 nur im nördlichen Teil bis in die Nähe von Fulda. Im mittleren Teil war die Trasse zu steil und zu kurvig und zu weit von den anzubindenden Städten entfernt. Zudem fehlte der Standstreifen. Einige Dämme wurden zurückgebaut, die Brücken blieben aber erhalten und sind heute meist von Bäumen überwuchert. Stattdessen wurde bis Würzburg eine neue Trasse weiter östlich geplant und bis 1968 gebaut, die heutige A 7.
Den Deutschen Alpenverein freut diese Alternativplanung bis heute. Er hat einen 1939 fertiggestellten Brückenpfeiler auf der Strecke 46 in Besitz genommen. Dort üben nun Kletterfans den Aufstieg. Jede Route über den Pfeiler hat einen Namen bekommen: „Letz Fetz“, „Rumpelstilzchen“ – und „Letzte Ausfahrt“.
