Die neue „Ronja Räubertochter“: Weniger Fantasy, mehr Realismus

Bevor das postheroische Zeitalter die Helden früherer Zeiten im Abstellraum der Geschichte entsorgt hat, waren Literatur und Sagen, Film und Fernsehen voll davon – meist männlichen. Weibliche gab es natürlich auch. Die aber waren stets allein unter Männern und stammten oft von einer Frau, die Heroismus eigentlich zum Schießen fand. Kein Wunder, dass Astrid Lindgrens größte Helden kleine Kinder waren. Pippi Langstrumpf zum Beispiel, Kalle Blomquist und natürlich der Prototyp des subversiven Wildfangs skandinavischer Prägung: Ronja Räubertochter.


Wobei der Namenszusatz schon andeutet, dass zumindest ihr Vater ein brüchiger Held ist – haust er doch auf einer schäbigen Burg und überfällt Durchreisende. Für Ronja ist es ein wildes, aber entbehrungsreiches Leben. Statt Gleichaltriger hat die Elfjährige schließlich nur Mattis Spießgesellen als Freunde – bis sich deren Erzfeind Borka im Nordteil der Festung, die ein Sturm bei Ronjas Geburt in zwei Hälften geteilt hatte, einnistet – darunter Birk, Sohn des Anführers und künftiger Kumpel.

Mit dieser Begegnung wurde Astrid Lindgrens Spätwerk 1981 vom Fantasy-Märchen im Robin-Hood-Stil zur emanzipativen Coming-of-Age-Story. Nur drei Jahre nach ihrer Veröffentlichung, prägte sie folglich auch Tage Danielssons gleichnamigen Kinoklassiker. Eine ARD-Serie legt den Fokus nun ebenfalls auf die Erzählung befreundeter Feinde. Dass die platonische Version von Romeo & Julia oder Tristan & Isolde dennoch vom Original abweicht, liegt an Hans Rosenfeldt.

Der Autor stellt das Empowerment präpubertärer Schmuddelkinder in den Schatten einer mittelalterlichen Milieustudie, die bei Lindgren eher angedeutet als ausformuliert wurde. Auch in der deutsch-schwedischen Degeto-Produktion „Ronja Räubertochter“ freundet sich die Titelfigur (Kerstin Linden) gegen Papas (Christopher Wagelin) und Borkas (Sverrir Gudnason) Willen zwar mit Birk (Jack Bergenholtz Henriksson) an. Im Gegensatz zur Romanvorlage aber fliehen beide nicht nach kurzer Kennenlernphase in den Wald, wo sie es mit Graugnomen und Rumpelwichten, anstatt elterlicher Rivalität zu tun kriegen.


Ronja Räubertochter

© 2023 Viaplay Group/Filmlance International AB/Film i Väst/Ahil Films/ARD Degeto Film/Audrius Solominas
Ronja (Kerstin Linden) und Birk (Jack Bergenholtz Henriksson) genießen es, sich heimlich im Wald zu treffen.

Für etwas mehr soziokulturelle Relevanz verlagert sich das Geschehen ein Stück weit aus der Wildnis in die Zivilisation eines angrenzenden Dorfes, deren Schulze Valdir (Pernille August) die Kopfgeldjägerin (Agnes Rase) engagiert, um der organisierten Kriminalität Einhalt zu gebieten. Rosenfeldt, bekannt fürs Krimidrama „Die Brücke“, verordnet „Ronja Räubertochter“ also einen Reifungsprozess abseits kindlicher Persönlichkeitsbildung: Weniger Jugend, mehr Reife, weniger Land, mehr Stadt, weniger Magie, mehr Moral, weniger Romantik, mehr Armut, weniger Beziehung, mehr Konflikte, weniger Fantasy, mehr Realismus.

Als Reminiszenz an die Weihnachtsmehrteiler, mit denen das Zweite der Generation X/Y/Z dank tapferer Jungs von Timm Thaler über Jack Holborn bis Patrick Pacard vor 40 Jahren die Adventszeit verkürzte, sorgt Das Erste also nicht nur für etwas mehr soziokulturellen Tiefgang. Den Bohrer bedienen auch diversere Figuren. Wie im öffentlich-rechtlichen Amüsement mittlerweile üblich, haben beide Banden nicht nur (fürs Pfeil-und-Bogen-Zeitalter überraschend) schwarze Räuber; sie geraten auch ins Visier zupackender Frauen, die der Feudalherrschaft toxischer Typen wie Valdirs korruptem Vogt Halvert (Peter Viitanen) Saures geben.

Mehr Handwerk als CGI

Damit das skandinavische Biotop bildungsferner, aber bauernschlauer Sagengestalten dennoch nicht zu Tode saniert wird wie Deutschlands rauputzsüchtige Innenstadtlagen, setzt Regisseurin Lisa James Larsson zum Glück eher auf Handwerk als CGI. Sprechenden Fabelwesen hat sie natürlich am Rechner kreiert. Wie in ihrer vormodernen Sky-Serie „Britannia“ aber dürften Burg und Dorf, Kulissen und Kostüme analoge Haptik ausatmen, die sich wohltuend vom digitalen Splitscreen-Spektakel zeitgenössischer Nachwuchsunterhaltung absetzt.

Auch deshalb eröffnet der Sechsteiler heute feierlich das neue Kinderprofil der ARD-Mediathek. Die verantwortliche Programmkoordinatorin Jana Brandt will dort „Safe Spaces“ schutzbedürftiger Alterskohorten erschaffen. Seitenarme vom Mainstream kabbeliger Flüsse, auf denen irgendwann sogar die pummelig-träge Zeichentrick-Biene Maja mit sexy Wespenteile von Abenteuer zu Abenteuer hetzen musste. Dass „Pumuckl“ oder „Hallo Spencer“ zuletzt gemächlicher reanimiert wurden, spricht zwar nicht für die generelle Entschleunigung des Familienfernsehens.


Gemeinsam mit der neuen, alten Ronja Räubertochter jedoch zeigen sie eindrucksvoll, dass Effekte an sich ebenso wenig Selbstzweck sind wie selbstreferenzieller Heroismus. „Was glaubst du denn, woher alles kommt, was wir hier haben?“, fragt Mattis Ronja einmal, als sie dessen Räuberei ethisch infrage stellt. „Es war einfach da“, antwortet sie blauäugig. „Wie Regen.“ Wie Regen waren früher allerdings auch männliche Helden immer einfach da. Aber zum Glück fordern weibliche aus der wilden weiten Welt von Astrid Lindgren sie ja auch weiterhin heraus. Allzu viel Tempo brauchen sie dafür gar nicht.

„Ronja Räubertochter“, die ersten drei Folgen am 1. Weihnachtstag um 20:15 Uhr, drei weitere Episoden am 2. Weihnachtstag um 18:00 Uhr im Ersten. In der ARD-Mediathek stehen alle Folgen bereits zum Abruf bereit.