
Wie sieht es aus, wenn eine Partei nicht weiß, wer sie ist oder wer sie sein will? Vielleicht so: Es ist der Abend, bevor die Wahl der Verfassungsrichter die schwarz-rote Koalition in ihre erste große Krise stürzen wird. Noch aber steht die Frage im Raum, wie sich die Abgeordneten der Linken bei der Abstimmung verhalten sollen.
In einem Gespräch erklärt ein führendes Mitglied der Fraktion, bei der Wahl gehe es auch um staatspolitische Verantwortung, das Verfassungsgericht sei zu wichtig, um sich ausgerechnet hier zu profilieren. Die Linke werde also nicht nur für die beiden Kandidatinnen der SPD stimmen, sondern auch für den Vorschlag der Union. Es bestehe die Gefahr, dass dieser Kandidat sonst mit Stimmen der AfD gewählt werde, als antifaschistische Partei müsse man das unbedingt verhindern.
Etwa eine halbe Stunde später ein zweites Gespräch mit einem wichtigen Linken-Politiker. Nur sagt dieser das Gegenteil voraus. Man werde den Kandidaten von CDU und CSU auf keinen Fall wählen. Die Union habe sich jedem Gespräch verweigert, sie habe selbst die Linken-Kandidatinnen für mehrere Kontrollgremien im Bundestag durchfallen lassen, darunter auch die Fraktionsvorsitzende Heidi Reichinnek. Bei dieser Union, die nach ihrem Antrag zur Migrationspolitik vom Januar erneut in Kauf nehme, zusammen mit der AfD zu stimmen – da könne man doch nicht einfach mitmachen.
Und damit ist man bei der großen Frage, die sich für die Linke gerade stellt: Will sie nur dabei sein oder mittendrin? Bedeutet Antifaschismus, Kompromisse mit den Parteien der Mitte zu machen, oder radikale Opposition? Was also fängt die Linke mit ihrem Wahlerfolg nun an?
In einem Hinterhof im Berliner Prenzlauer Berg liegt die Kommunikationsagentur von Carsten Dannel. Als er im Dezember begann, die Kampagne der Linken für die Bundestagswahl zu planen, lag die Partei bei zwei bis drei Prozent. Die „Todeszone“, sagt Dannel. Um zu verstehen, warum die Linke trotzdem zu den Gewinnern gehörte, lohnt es sich, auf diese ersten Wahlkampftage zurückzublicken. Dannel und seine Kollegen lasen Umfragen und Studien und identifizierten zwei relevante Wählergruppen für die Partei: rot-grüne Großstädter, wie hier im Prenzlauer Berg – und das prekäre Milieu.
Meinungsumfragen ergaben, so Dannel, dass zwischen diesen Milieus viele Themen umstritten waren. „Das war so bei der Friedens- und Außenpolitik“, sagt Dannel, „außerdem in Ansätzen bei der Migration und auch beim Klima.“ All diese Themen ließ die Linke beiseite. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die gemeinsamen Überzeugungen der potenziellen Wähler, die gab es vor allem in drei Bereichen: Umverteilung, hohe Mieten, steigende Preise. Mit diesen Themen sei die Linke in eine Lücke gestoßen, die SPD und Grüne offen gelassen hätten, sagt Dannel. Dazu kam die Empörungsrede von Heidi Reichinnek, als Friedrich Merz die Union gemeinsam mit der AfD stimmen ließ. Spätestens danach, sagt Dannel, habe der Wahlkampf der Linken auch einen klaren Gegner gehabt: die CDU.
Das war die Ausgangslage, als die Linke mit 8,8 Prozent in den Bundestag einzog. Dort traf sie dann auf die Realität.
Es begann damit, dass die Linken-Parlamentarier Friedrich Merz, den sie eben noch in die Nähe des Faschismus gestellt hatten, einen zweiten Kanzler-Wahlgang ermöglichten, nachdem er beim ersten durchgefallen war. Die Begründung: Von einem Chaos profitiere nur die AfD. Auf dem Parteitag wenige Tage später wiederum forderten mehrere Mitglieder den Parteiausschluss der Linken-Minister aus Mecklenburg-Vorpommern und Bremen, weil sie im Bundesrat den Milliardenpaketen von Merz für Infrastruktur und Bundeswehr zugestimmt hatten. Mit vielem hatte die Partei gerechnet, aber dass sie so schnell von der Union gebraucht würde – darauf war sie offensichtlich nicht vorbereitet.
Im Bundestag formierte sich währenddessen eine Fraktion mit 64 Abgeordneten, von denen nur 18 schon vorher im Parlament gesessen hatten. Viele der Neuen hatten nicht ernsthaft geglaubt, in den Bundestag einzuziehen, als sie sich im Winter um Plätze auf den Wahllisten einer siechenden Partei bewarben.