
Perfekte Verbrechen passieren in der Regel im Verborgenen, ohne Zeugen und möglichst leise. Bestenfalls steht noch ein schnelles Fluchtfahrzeug zur Verfügung. Seit einigen Wochen aber geschieht ein bestimmter Regelverstoß am helllichten Tag und auf offener Straße, vom Tatort entfernt man sich schwerfällig tretend und begleitet vom lauten Piepen einer Alarmanlage: Kinder und Jugendliche haben entdeckt, wie man die Leihfahrräder aufknackt, die die Straßen von Großstädten füllen.

Die sogenannte „Lime Methode“ kommt aus London und kursiert auf Tiktok. (Bevor Sie die App herunterladen: Hinterrad anheben, nach hinten drehen lassen und dann mit Schwung wieder auf den Boden knallen, Selbstversuch der Redaktion steht allerdings noch aus.) Den Elektromotor aktiviert das nicht, treten muss man selbst. Wenn man die Jugendlichen beim stolzen, aber zähen Ritt auf ihrer Beute beobachtet, umschwirrt vom Sirenenchor, ist nicht klar, ob das dem Transport dient oder nicht eher eine Mutprobe ist. Ja, man könnte fast sagen: sie machen es aus Spaß! Für den Nervenkitzel! Die Rebellion! Was das Jugendlichsein eben ausmacht.
Taktische Klugheit und Bricoleure
So ist dieses Anti-Verbrechen also doch perfekt: Wo kein Kläger, da kein Richter, warum sollte man die Interessen eines Unternehmens, das unpersönlich und bedarfsunabhängig den öffentlichen Raum mit seinen Produkten flutet, gegen Jugendliche aus der eigenen Nachbarschaft verteidigen? Man könnte sich stattdessen ein Vorbild nehmen.
Der französische Soziologe Michel de Certeau grenzt strategische und taktische Kreativität voneinander ab: Strategie setze Macht über einen eigenen Ort voraus, der gestaltet werden könne (hier durch Erwachsene oder Leihfahrrad-Unternehmen), die Taktik hingegen (hier: die Jugend) „hat nur den Ort des Anderen“. Taktik arbeitet mit Tricks, Gelegenheit und praktischer Klugheit. Ähnlich wie beim „Bricoleur“, dem Bastler also, einem Begriff des Ethnologen Claude Lévi-Strauss, machen die Jugendlichen sich das Limesystem improvisatorisch, fast zweckendfremdend zunutze, werden zu Akteuren statt zu passiven Konsumenten. Solche Übungen gewinnen nicht nur für sie an Relevanz, wenn beispielsweise digitale Produkte immer weniger Handlungsspielräume für Konsumenten bieten, ihr Handeln im Gegenteil überwachen und zu lenken suchen.
Wer also das Alarmpiepen vernimmt, dem kann eigentlich nur warm ums Herz werden: So klingt ein Bricoleur bei der Arbeit. Möge das Piepen nie aufhören.