Die Insel der starken Frauen

„Ich will die Männer gar nicht herabsetzen“, sagt Vanita Comissiong, „aber diejenigen, die hier die Verantwortung auf ihren Schultern und die Kontrolle haben, sind nun mal häufig Frauen.“ Wer am frühen Morgen über den Fischmarkt von Oistins im Süden des karibischen Inselstaats schlendert, kann auf Anhieb beobachten, was die barbadische Malerin in zahlreichen ihrer Bilder mit expressionistischer Farbwucht festgehalten hat: eine von Frauen bewegte Insel. „Die Frauen am Markt und am Straßenrand, die viele leicht übersehen – ich fühle mich von ihnen angezogen“, sagt die 62-Jährige. „Ich sehe ihre Gesichtsausdrücke, ihre Stärke und ihr Selbstbewusstsein. Wir haben hier eine sehr matriarchalische Gesellschaft.“

Barbados wird nicht nur von einer Premierministerin und einer Präsidentin regiert. Auch die stellvertretende Regierungschefin ist eine Frau. Und selbst im Alltag scheinen auf der östlichsten Insel der Kleinen Antillen Frauen augenscheinlicher als anderswo die Dinge in die Hand zu nehmen. Der Fischmarkt in Oistins gibt auch Touristen einen ersten lebhaften Eindruck davon: Fischerinnen in dottergelben, scharlachroten und orangefarbenen T-Shirts bieten nicht nur Blauen Marlin, Goldmakrelen und speziell zubereitete Fliegende Fische feil. Frauen sind hier nicht nur Verkäuferinnen. Sie sind ganz selbstverständlich auch Unternehmerinnen und Geschäftsführerinnen. Etliche behaupten hier ihre eigenen Betriebe – manchmal schon seit mehreren Generationen. Männer brauchen viele dafür nicht. Auf Barbados nennt man das auch das Fischerinnen-Matriarchat. In der Forschung wird diskutiert, ob die in der Karibik teilweise noch immer erhaltene Vormachtstellung von Frauen in Teilen der Gesellschaft auch auf matriarchalische Traditionen in Westafrika zurückgeht. Von dort wurden über Jahrhunderte Sklaven auf die Antillen verschleppt.

In vielen von Comissiongs üppig bunten Bildern spielen Frauen verschiedener gesellschaftlicher Hintergründe die Hauptrolle: Ob als Marktverkäuferinnen, Tänzerinnen oder Matriarchinnen, die wie Göttinnen auf Canapés thronen – in ihren Gemälden bestimmen oft Frauen den Rhythmus, ganz wie auf der Heimatinsel der Künstlerin.

„Frauen haben hier ihre eigenen Häuser, die Hypotheken, die gewichtigen Jobs und sie fahren die großen Autos“, sagt Comissiong. „Man muss sich nur umschauen: wer bestimmt in den Haushalten, an den Universitäten, in der Kultur: Frauen. Barbados kann sich glücklich schätzen.“ 2021 wurde Barbados zur Republik und Queen Elizabeth II. als Staatsoberhaupt von Sandra Mason, der ersten Präsidentin von Barbados, abgelöst.

Die meisten Touristen besuchen Barbados für einen Strandurlaub. Wer sich jedoch auf die Spuren seiner starken Frauen in Politik, Gesellschaft und Kultur begibt, macht überraschende Entdeckungen. Und kommt überall mit Einheimischen ins Gespräch, die stolz sind auf ihre von Frauen regierte und bewegte Insel.

„Gerade sind auch junge Frauen zwischen 20 und 40 in der Kunst federführend. Sie nutzen ihre Leinwände, Skulpturen und Installationen auch für die MeToo-Bewegung und ähnliche Anliegen ihrer Generation“, sagt Comissiong.

Barbados ist neben Island und Bosnien-Herzegowina aktuell der einzige Staat der Welt, in denen Frauen sowohl das Amt des Regierungschefs als auch des Staatsoberhaupts innehaben. Mia Amor Mottley ist seit fast sieben Jahren nicht nur die derzeit am längsten amtierende Premierministerin der Welt, sie wurde in den vergangenen beiden Jahren auch auf der Forbes-Liste der 100 mächtigsten Frauen der Welt geführt. Auch auf dem internationalen Parkett ist sie seit langem eine geschätzte Persönlichkeit und besonders für ihren Einsatz für den Klimaschutz bekannt. 2021 erhielt sie den „Champions of the Earth Award“ der Vereinten Nationen.

„Es gibt noch immer Männer, die Frauen nicht an der Spitze ihres Landes sehen möchten“, sagt Commissiong, „aber Mia Mottley hat mit dieser männerdominierten Politik gebrochen und das hätte sie schon zehn Jahre früher tun können. Sie bekommt noch immer viel Gegenwind, aber das scheint an ihr völlig abzuperlen.“

Die 59-jährige Premierministerin verfolgt für Barbados das hehre Ziel, bis 2030 CO2-neutral zu werden. Dabei wird sie gerade auch von jungen Barbadierinnen unterstützt. Weg von einer von Exporten abhängigen Republik hin zu erneuerbaren Energien und Selbstversorgung – bis dahin ist es jedoch noch ein weiter, steiniger Weg.

In Coco Hill Forest im Inselinnern, fernab der belebten Strände, können sich auch Urlauber ein Bild davon machen, wie Barbados mit ambitionierten Umwelt- und Agrarprojekten eine ökologisch wegweisende Zukunft anstrebt. Hier können sie nicht nur durch nachhaltig geführte Plantagen und einen der letzten Reste des ursprünglichen Tropenwalds wandern. Einheimische Guides erklären ihnen auch verschiedene exotische Früchte, Blüten und Vögel der Antillen. Gerade ist eine Gruppe von neun jungen Frauen und ein Mann dabei, Kakaosetzlinge im Coco Hill Forest zu pflanzen. Die Studierenden unterstützen als Freiwillige ein Projekt, das mit dem ökologischen Anbau verschiedener Nutzpflanzen ein Modell für eine neue Landwirtschaft schaffen will – allen Widrigkeiten zum Trotz. Die jahrhundertelange Dominanz von Monokulturen – allen voran von Zuckerrohrfeldern – hat die Böden der Insel stark degradiert, zudem vernichten invasive Arten wie einst aus Westafrika eingeführte Grünmeerkatzen, eine Affenart, oft große Teile der Ernte. Auch der Klimawandel macht vielen Farmern zu schaffen.

„Junge Leute hier sehen, wie die Klimakrise die gesamte Karibik beunruhigt“, sagt Ashley Lashley, „und gerade junge Frauen spüren, dass sie Frauen oft noch mehr als Männer trifft.“ Die 25-Jährige vertrat Barbados vor sieben Jahren bei der Miss-World-Wahl und nutzte den Moment, um Jugendliche für einen Einsatz für die Umwelt und soziale Themen zu begeistern. Als UNICEF-Jugendsprecherin und Aktivistin ist sie heute in der Karibik und weltweit unterwegs. Sie traf Hillary Clinton und Carla Barnett, die Generalsekretärin der Karibischen Gemeinschaft CARICOM.

„Frauen in Führungspositionen wie Mia Mottley, Sandra Mason, aber auch andere weltweit prominente Frauen wie Rihanna ermutigen mich, als junge Frau Initiative zu ergreifen und meine eigenen Grenzen zu sprengen. Wir sind eine kleine Insel, aber mit unseren dynamischen Frauen an der Spitze zeigen wir der Welt, dass wir ambitionierte Ziele erreichen können.“

Im Dezember hat Barbados als erstes Land der Welt mit einem innovativen Ansatz Schulden in Klimainvestitionen umgewandelt und finanziert damit ein modernes Wassermanagement und eine verbesserte Ernährungssicherheit. In Kooperation mit internationalen Partnern gelang es dem Inselstaat, teure laufende Kredite günstiger umzuschulden.

Eine weitere Frau bestimmt seit Jahren das Bild von Barbados in der Welt. Rihanna – Weltstar, Unternehmerin und erste Self-Made-Milliardärin auf der Forbes-World‘s-Billionaires-Liste, blieb trotz ihrer internationalen Karriere ihrer Heimatinsel eng verbunden, unterstützte wiederholt Mia Mottley und wurde im Jahr der Republikgründung zur Nationalheldin von Barbados erklärt.

Die meisten Barbadier sind leidenschaftliche Verehrer von Rihanna – auch Passa Austin. „Sie ist eine Frau mit unglaublicher Kraft und Ausstrahlung“, sagt ihr ehemaliger Nachbar im Bridgetowner Hafenviertel, „Gleichzeitig ist sie aber ganz die Alte und hat keinerlei Allüren. Wenn sie hier vorbeikommt, ist sie für uns nicht Rihanna, sondern einfach nur Robyn – ihr eigentlicher Vorname. Einfach eine von uns.“ Der 63-Jährige hat direkt gegenüber des Häuschens, in dem der spätere Superstar aufwuchs, eine Bar eröffnet. „Hier drüben saß sie oft auf der Stufe und passte auf ihre Landschildkröte auf. Ein ganz normales Mädchen. Sie schaut hier noch immer ab und an vorbei. Dann verteilt sie auch mal Geldgeschenke an die Nachbarn“.

Die Straße mit ihren bunten Hausfassaden wurde inzwischen in „Rihanna Drive“ umbenannt. In Austins Bar können Fans der Sängerin nun bei einem Rum Punch in Begeisterung für ihr Idol schwelgen, während „Diamonds“ und „We found Love“ über den Tresen schallen. Gerade lassen sich gegenüber zwei Touristinnen, die von der nahen Anlegestelle für Kreuzfahrtschiffe gekommen sind, vor dem kiwigrünen Rihanna-Häuschen fotografieren, das inzwischen in eine AirBnB-Wohnung umgewandelt wurde.

„Wir haben Mia Mottley, wir haben Sandra Mason und natürlich Rihanna“, sagt Patricia Affonso-Dass, „Sie ist nicht nur eine Musikerin, sondern eine der facettenreichsten Geschäftsfrauen heute“. Vom O2 Beach Club in quirligen Ausgehviertel Saint Lawrence Gap blickt die Hotelmanagerin durch eine Glasfront im neunten Stock auf einen weißen Sandstrand unter geneigten Kokospalmen. Affonso-Dass leitet die Ocean Hotels, eine kleine familiengeführte Gruppe mit drei Hotels und mehreren Restaurants. Sie ist eine von unzähligen Frauen, die im Tourismus der Insel Führungspositionen innehaben. Im letzten Jahr wurde sie vom karibischen Hotel und Tourismus-Verband CHTA als „Caribbean Hotelier of the Year“ ausgezeichnet. „Als ich in der Reiseindustrie begonnen habe, waren Frauen vor allem im mittleren Segment zu finden. Jetzt aber findet man sie immer mehr in führenden Positionen“, sagt Affonso-Dass. Dass so viele Frauen auf Barbados führend im Gastgewerbe sind, ist für sie einfach nur natürlich. „Frauen in der Karibik managen den Haushalt und ihre Großfamilien. Das ist ein Schlüsselelement in unserer Gesellschaft und das spiegelt sich auch im Tourismus-Business wider.“ Auch in den Ocean Hotels seien Frauen im mittleren und führenden Segment in der Überzahl, sagt Affonso-Dass, „und zwei unserer drei General Manager sind homosexuell“. Die kleine Hotelgruppe wirbt auch offen um LGBTQ-Urlauber. In der Karibik ist das keinseswegs selbstverständlich. Auf vielen Urlaubsinseln der Antillen herrschen noch immer Gesetze, die homosexuelle Handlungen verbieten und teils hart bestrafen. Barbados gehört seit 2022 nicht mehr dazu. Unter Sandra Mason und Mia Mottley wurde das Strafgesetz gegen homosexuelle Handlungen abgeschafft.

„Wir sind noch immer eine konservative Gesellschaft und Veränderungen brauchen ihre Zeit“, sagt Affonso-Dass, „aber zumindest das Barbados, das ich kenne, ist offen und großherzig. Ich war früher auch oft die einzige Frau im Raum, habe aber nie Vorurteile gegen mich erlebt. Hier ist man einfach respektvoll mit dem Gegenüber, ganz egal welches Geschlecht, welche sexuelle Orientierung und welche Hautfarbe er oder sie hat.“