Die Helsinki-Biennale: Die Insel ist die Protagonistin

Glänzend gelbe Butterblumen quetschen sich an absurd fragilen Stielen durch Maiglöckchen und Wilde Möhre. An einem Abhang wellt sich Bast von schmalen Birkenstämmen, ergießt sich in ein sumpfiges Meer aus Schachtelhalmen in dunkelstem, sattem Grün. Über ihnen schwebt das Versprechen von Dinosauriern und Meteoriten, von Eiszeiten, tektonischen Plattenverschiebungen und jahrmillionenalter Evolution, während über dem eigenen Kopf am freigemähten Wegesrand dicht an dicht Schnüre voll nussartiger Samenschalen hängen.

Zwischen Ästen hängen lange Taue. Wer an ihnen rüttelt, übertönt die pausenlos schreienden Vogelstimmen für einen kurzen Moment mit einer bebenden Rassel-Installation, deren Klänge wie trockener Regen direkt ins Gehirn rieseln. „Sonic Seeds“ heißt die Arbeit der mexikanischen Künstlerin Tania Candiani, die versucht, sich gegen die fette finnische Natur zu behaupten. Ein fast vergebliches Unterfangen, zu sehr drückt sich die in jeden Nervenkanal.

Die Biodiversität der Insel Vallisaari gilt als artenreichste der finnischen Scherengärten, deren mehr als 40.000 Inseln vor der Küste Helsinkis wie Walfischrücken aus dem Wasser aufragen. Besucht man im Juni die auf ihr soeben eröffnete Helsinki-Biennale – Vallisaari ist nur eine 20-minütige Bootsfahrt vom Zentrum der finnischen Hauptstadt entfernt –, fällt es nicht schwer, dies zu glauben.

Schützen, Reparieren, Koexistieren

„Shelter – Below and Be­yond, Becoming and Belonging“ lautet der Titel der noch jungen Kunstausstellung. Ihre diesjährige, dritte Ausgabe setzt sich örtlich passend mit dem Verbessern und Verstehen ökologischer Beziehungen auseinander, mit Schützen und Reparieren, mit Koexistieren und nichtmenschlichen Akteuren, Gemeinschaften und Geschichten.

Die Helsinki Biennale

„Shelter – Below and Beyond, Becoming and Belonging“: Helsinki-Biennale, bis 21. September

Die Reise nach Helsinki wurde unterstützt von Helsinki Partners.

Wenige Meter weiter ein intensiver Duft. Es ist nicht der noch blühende Flieder, auch nicht das zertretene Geranium, er ist fast sexuell, nicht zuordenbar, keinesfalls synthetisch. An drei verschiedenen Orten der Insel hat der Künstler Raimo Saarinen seine „Invasive Scents“ in hohlen Baumstümpfen versteckt, irritierend nebeln sich so auf den Wegen die Düfte fremder, invasiver, doch hier noch nicht verbreiteter Pflanzen in die Nasen der Besuchenden.

„Foreigners everywhere“ hieß die Ausgabe der letzten Venedig-Kunstbiennale, deren Kurator Adriano Pedrosa zum Unmut vieler den Schwerpunkt auf Kunst indigener Gemeinschaften und des „globalen Südens“ legte. Auch auf der Helsinki-Biennale wird das Ausstellen der bisher ungezeigten, ungehörten Positionen, das sich in den letzten Jahren auf den internationalen Kunstereignissen als Tendenz abzeichnete, durch die beiden Kuratorinnen Bianca de la Torre und Kati Kivinen fortgeführt. Sie seien alle tief von Theorien des Ökofeminismus geprägt, erklärt de la Torre, die schon 2021 die ecuadorianische Cuenca-Biennale kuratierte.

Doch während sich in den letzten Jahren von der Venedig-Biennale bis zur documenta in Kassel nicht nur ein politischer Aktivismus, sondern auch Wut, Gewalt und Feindseligkeiten ihre Wege in die Kunstschauen bahnten, ist davon in Helsinki wenig zu spüren. Zwar träfen sich auch hier „der globale Süden mit dem indigenen Norden“, doch sind die ausgestellten Arbeiten fast durchweg positiv in ihrer Weltsicht. Und auch etablierte all-time classics wie Ólafur Elíasson und Yayoi Kusama sind vertreten.

In der Skulpturenserie „Stranding“ von Sara Bjarland geht es um Kindheitssehnsüchte und Plastikmüll



Foto:
Helsinki Biennale/Vallisaari Island


Die Kunst auf dieser Helsinki-Biennale fokussiert aufs Verstehen und Interagieren – und die Schönheit der Natur. Teils durch ihre fast kitschige Imitation, wie bei den Glasobjekten des Künstlerinnenduos ­LOCUS, teils durch wirklich gelungene Partnerschaft, wie beim Duo nabbteeri. Deren parasitäre Pflanzeninstallation „a suitable host“ bietet an einem alten Gebäude der Insel Schutz für nicht-menschliche Bewohner und erfüllt auch formal-ästhetisch alles, was man sich von Kunst nur wünschen kann: Sie ist irritierend, lustig, schön.

Wenn Spielzeug zu Müll wird

Jahrzehnte lang unbewohnt und militärisch gesperrt, ist es die Insel Vallisaari selbst, die zur Protagonistin dieser Biennale wird. Nur die Kunst, die sich der Insel unterordnet, kann auf ihr bestehen. Auf flachen Steinen abseits des Weges, den man nur hier ausnahmsweise verlassen darf, heizen sich von Sara Bjarland in Bronze gegossene, flatschige aufblasbare Schwimmspielzeuge wie angeschwemmt in der Küstensonne auf. Jede Luft ist aus den Spielzeugdelfinen gewichen, nur ihre Plastikgriffe strecken sich noch neben den atemlosen Rückenflossen empor. Müll und Tod, Sehnsucht, Kindheit und Wachstumsversprechen schweigen vorwurfsvoll dröhnend in der Skulpturen-Serie „Stranded“, die nach der Biennale in die Sammlung der öffentlichen Kunst Helsinkis übergehen – wo genau sie letztlich für immer stranden werden, sei jedoch noch unklar, berichtet die Künstlerin.

Solch direkte Kritik am Menschen findet sich in wenigen Arbeiten der 37 Künst­le­r:in­nen und Kollektive, die sich auf Vallisaari und an weiteren Orten der Stadt verteilen. Im Esplanade-Park in Helsinkis Innenstadt grüßt stumm und vorwurfsvoll ein „Unmelting Snowman“ aus schwarzem Granit von Gediminas Urbonas, der schon seit 1995 an das Ausmaß des menschengemachten Klimawandels erinnert und nun anlässlich der Biennale gemeinsam mit weiteren Arbeiten auf den Platz gestellt wurde.

Läuft man auf der Insel und in der Stadt für die Kunst teils weite Strecken ab, versammelt die Hauptausstellung im Helsinki Art Museum (HAM) viele Werke in luftigen Räumen. „This is my body, this is my land. I am the body, I am the land“ begrüßt einen sofort das Video „Teardrops of our Grandmother“ von 2023 der Sámen Jenni Laiti und Carl-Johan Utsi. Deren enigmatischen Drohnenaufnahmen von Rentierherden in Eislandschaften entfalten eine hypnotische Wirkung. Ein paar Schritte weiter hängen die charmant breitpinselig gemalten Naturillustrationen von Maria Thereza Alves.

Reisende Künstlerinnen der Geschichte

Ihre gelb-transparente Spinne scheint sachte in Richtung einer anderen Institution zu grüßen: Parallel zur Biennale zeigt das Ateneum, Teil der finnischen Nationalgalerie, die Ausstellung „Crossing Borders – Travelling Women Artists in the 1800s“. Mit mehr als 270 Exponaten werden dort Werke von Malerinnen gezeigt, die sich als Alleinreisende durch Europa bewegten und dabei neue Blicke auf Natur, Körper und Umgebung entwickelten – unter ihnen auch die poe­tischen und unwahrscheinlich feinen Spinnenbilder Hilda ­Olsons, der ersten wissenschaftlichen Illustratorin Finnlands.

Dass die Ausstellung explizit von „Women Artists“ spricht, ist kein Zufall. Die finnische Sprache kennt keine grammatikalischen Geschlechter. Und tatsächlich ist es eindrucksvoll, so viele Werke von Frauen zu sehen. Vieles ist streng akademisch, wenig scheint innovativ – aber gerade deshalb vielleicht fair, wie oft lief man schon an mittelmäßiger Malerei von Männern vorbei.

Verlässt man die Wege der Biennale, hängt über Helsinkis Kunstsommer ein wenig Sehnsucht, ein wenig lauernder Verfall. Im Projektraum SIC versucht Kaare Ruud die unaufhaltsamen Zersetzung des ikonischen Monobloc-Stuhls mit Kabelbindern aufzuhalten, als würde er die globale Menschheit reparieren, während Lasse Juuti bei Kohta dicke Holzplanken in Leinwand wickelt, wie in malerisches Verbandszeug. Darauf handgeformte Goldobjekte – eines davon gefertigt aus Ferrero-Rocher-Papier.

Im Bücherregal am Ausgang liegt ein ­schmaler Band der US-amerikanischen Künstlerin und Dichterin Nhatt Nichols. Mit wenigen Worten und wildem Bleistift beschreibt sie das Verschwinden der Menschheit vom Planeten, das unaufhaltsame Zurückerobern der Natur: „We would just be so astonished at what has replaced our plastic empire. What I mean is: this was made to be missed. I hope this fractures your heart open. Seedlike to ­sprout again just to see.“ Um wieder zu sprießen, nur um zu sehen – auch das hätte der Untertitel der diesjährigen Biennale sein können.