Die heilsame Auszeit der Amanda Anisimova

Viele Tennisprofis haben in den vergangenen Tagen von Wimbledon über ihre Sorgen und Nöte gesprochen. Angefangen bei Alexander Zverev, der nach seiner Erstrundenniederlage davon erzählte, wie einsam und antriebslos er sich fühlte und wie freudlos ihm sein Leben vorkäme. Andere kamen sich vor wie im Hamsterrad, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt: elf Monate unermüdlich auf Tour, einen Monat unerbittlich in der Saisonvorbereitung.

Amanda Anisimova gehört zu jenen, die die Härten des Lebens und des Berufs früher als die meisten Kolleginnen und Kollegen erleben mussten. Mit 15 wurde die US-Amerikanerin als Ausnahmetalent hochgejubelt, damals besiegte sie die ebenfalls hochbegabte Coco Gauff im Juniorinnen-Finale der US Open.

Anisimova gelang das Comeback

Mit 17 war sie nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters, der auch ihr Trainer war, am Boden zerstört. Auf der Profitour schlug sie sich danach mehr schlecht als recht. Mit 21 wandte sie sich vorübergehend vom Tennis ab, wegen mentaler Probleme und Burnout. Als sie sich die Auszeit nahm, erzählte Anisimova, die Ende August 24 wird, sei sie von vielen Leuten abgeschrieben worden.

Das sei es dann wohl gewesen mit der Weltklasse, hieß es. „Das war schwer zu verdauen, weil ich zurückkehren, eine Menge erreichen und eines Tages ein Grand-Slam-Turnier gewinnen wollte“, sagt sie nach ihrem Halbfinalsieg über die Weltranglistenerste Aryna Sabalenka. Das Comeback, das Anisimova Anfang 2024 startete, ist ihr gelungen. Jetzt kann sie es beim Rasenklassiker in Wimbledon krönen.

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Wie auch immer das Endspiel gegen die fünfmalige Grand-Slam-Turniersiegerin und frühere Weltranglistenerste Iga Swiatek ausgeht an diesem Samstag (17.00 Uhr MESZ bei Prime Video): Amanda Anisimova hat es allen gezeigt. Den Zweiflern, die ihr nach der Auszeit nicht mehr viel zugetraut hatten. Und den Kolleginnen und Kollegen, die sich auch nach Pause und innerer Einkehr sehnen, sich dazu aber nicht durchringen können: aus Furcht, einen Titel zu verpassen.

Oder weil sie sich als Tennisprofi verstehen, der funktionieren und Erfolge liefern muss, und nicht als Mensch, der auch andere Bedürfnisse hat. Dass sie nach ihrer Auszeit so erfolgreich zurückkehren konnte, sei für sie „schwer zu begreifen“, sagte sie. Aber es sei auch „eine besondere Botschaft“ an alle, denen es ähnlich erginge als Tennisprofi: „dass ich es geschafft habe, zurück an die Spitze zu gelangen, indem ich mich selbst am wichtigsten genommen habe“.

„Gelassenheit, Resilienz, Arbeitsmoral“

Amanda Anisimova hat auf die harte Tour gelernt, wie wichtig der Abstand zur täglichen Fron ist. In ihrer siebenmonatigen Pause von Frühling bis Jahresende 2023 verbrachte sie viel Zeit mit ihren Freunden und Familienangehörigen wie ihrer Schwester, deretwegen sie zum Tennis gekommen ist.

Sie hat ein wenig studiert, ehrenamtlich gearbeitet, einige Reisen unternommen und angefangen zu malen: abstrakte Werke, die sie gelegentlich verkauft und die Erlöse an karitative Einrichtungen spendet, die mentale Gesundheit fördern. Sie sei keine mehr, die nur an „Tennis, Tennis, Tennis“ denke.

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Als Amanda Anisimova in der Auszeit gemerkt hatte, wie viel ihr der Sport eigentlich bedeutete, habe sich ihre „Arbeitsmoral und Professionalität“ gedreht. Ihr half ein gutes Händchen bei der Auswahl ihrer Teammitglieder, vor allem von Rick Vleeshouwers, der seit etwas mehr als einem Jahr ihr Coach ist.

Als der Niederländer den Job antrat, arbeitete Anisimova – während ihrer Auszeit aus den Top 400 gefallen – sich in der Weltrangliste allmählich wieder nach vorne. Rückschläge gehörten dazu. Zum Beispiel im vergangenen Jahr in Wimbledon, als sie in der entscheidenden Qualifikationsrunde scheiterte – an der Deutschen Eva Lys. „Inzwischen hat sich alles gefügt, sie gewinnt Matches, ohne dass sie perfekt spielt“, sagte Vleeshouwers und pries Anisimovas Wesen: „Ihre Gelassenheit, ihre mentale Resilienz und ihre Arbeitsmoral stechen hervor.“

Für Finalgegnerin Swiatek, seit mehr als einem Jahr ohne Turniersieg, ist es ein laufender Lernprozess, mit dem eigenen Perfektionismus und mit den Erwartungen der Öffentlichkeit umzugehen. Seit sechs Jahren arbeitet die frühere Weltranglistenerste deswegen mit der Sportpsychologin Daria Abramowicz zusammen.

Die Stärken ihrer Endspielgegnerin Amanda Anisimova weiß Swiatek seit gemeinsamen Juniorinnentagen zu schätzen: ihre beidhändige Rückhand, die Wucht ihrer Schläge, die Returns. Hinzu kommt das Comeback nach der Krise: „Jeder, der sich durch so etwas durchgekämpft hat und auf einem höheren Niveau zurückgekehrt ist, verdient größten Respekt“, sagte die Polin.