„Bitte keinen Meter weiter, dann sind Sie bereits in Russland“, so mahnt Hans Hatle die Ausflügler im Touristencamp Boris Gleb. Vor über 20 Jahren hat der Mann aus Kirkenes den Logenplatz am Pasvikfluss direkt neben den Grenzpfählen errichtet, von Jahr zu Jahr wurde die Holzhütte erweitert. Heute kann er dort gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin Nicole Merten aus Hamburg mehreren Dutzend Gästen die Spezialität der Region auftischen: Königskrabben aus der Barentssee.
In den 1960er-Jahren wanderten die von russischen Forschern im Meer vor Murmansk ausgesetzten Königskrabben nach Westen und vermehrten sich stark. „Anfangs sahen unsere Fischer die Invasion der Krabben als Katastrophe an und fürchteten um ihre Existenz“, erzählt Hatle. Die Sorgen sind längst vorbei: Königskrabben werden den Touristen nicht nur als Delikatesse bei Bootsausflügen serviert. Nicole und Hans bieten mit ihrer Barentssafari von Juni bis September regelmäßig Königskrabbenverkostungen an.
Fischereigenossenschaften in Kirkenes und den abgelegenen Küstendörfern wie etwa dem 200 Einwohner zählenden Bugøynes vermarkten die bis zu 17 Kilo schweren Monsterkrabben als kostbare Delikatesse nach Asien. Nach Singapur und Südkorea kommen die Schalentiere per Luftfracht via Oslo.
Sie leben gut mit und von den Königskrabben in Kirkenes, über 60 Nationalitäten in der 3500-Einwohner-Hafenstadt am Endpunkt der legendären Hurtigruten-Postschifflinie. Straßenschilder auf Norwegisch, Finnisch und Russisch sind auffällig, schließlich ist die Grenze zur Russischen Förderation nur zehn Autominuten entfernt. Es ist auch der End- und Startpunkt der Europastraße 6, die über 3000 Kilometer durch Skandinavien bis ins südschwedische Trelleborg verläuft.
Norwegen erstreckt sich noch ein wenig weiter ostwärts: 60 Kilometer über die buckelige Landstrasse 886 durch die Einsamkeit bis zur Grense Jakobselv (Grenze am Jakobsfluß): stahlblaues Eismeer, ein winziger Sandstrand, Parkplatz mit Toilette und der Hinweis, dass der Nordpol von hier aus lediglich 2331 Kilometer entfernt sei, Norwegens Hauptstadt Oslo aber 2538 Kilometer.
Wer die Landschaft aus arktischer Küste, Tundra und Taiga erleben will, steuert über die wenig befahrenen Europastraßen E6/E 75 entlang des weitläufigen Varangerfjordes die Nationale Landschaftsroute Varanger nach Vardø an.
Die Varangerstrecke ist eine der 18 norwegischen Landschaftsrouten, die ab 1994 von der Straßenverwaltung geschaffen wurden. Alle „Nasjonale Turistveger“ haben diese Merkmale: Sie erschließen faszinierende Landschaften; ihre Rastplätze sind nicht einfach simple Parkplätze, sondern punkten mit herausragender Architektur.
Natur und Kultur an der Varangerstrasse, die am Parkplatz Gorgnetak beginnt. Gorgnetak ist samisch, das bedeutet Aufstieg und steht symbolhaft für den Beginn der Strecke, die nach 160 Kilometern im verlassenen Fischdorf Hamningberg enden wird.
Immer einsamer wird die Landschaft. Liebliches Grünland wechselt mit schroffen Felspartien. Schafe und Rentiere kreuzen plötzlich die Fahrbahn, Dorschköpfe sind zum Trocknen an Holzgestellen befestigt.
Schließlich der Zwischenstopp in der Fischerstadt Vardø, auf einer Insel und erreichbar durch die 2,8 Kilometer lange Tunnelröhre. Norwegens erster Unterwassertunnel, 1983 eröffnet. Vardø – ein sterbender Ort? Verlassene Häuser und vergammelte Holzfassaden deuten daraufhin. Über 4000 Menschen lebten mal in Vardø, heute kaum mehr als 2000. Denn mit der Finanzkrise im Jahr 2009 kam auch die Fischerei in der arktischen Stadt ins Schwimmen.
Doch wenn es nach Tormod Amundsen geht, dann bestehen Chancen für eine bessere Zukunft. Der Architekt und passionierte Hobby-Ornithologe entwirft in seinem Büro am Hafen moderne Schutzhütten für Vogelbeobachter. Die kommen mittlerweile in Scharen zwischen März und Juni, vor allem aus England und Finnland. Vardø und die vorgelagerte Insel Hornøya sind die Hotspots zur Beobachtung zigtausender Trottellummen, Eiderenten, Papageientaucher, Kormorane und Dreizehenmöwen. „Ich setze auf diesen Ökotourismus. Wir wollen keine Besuchermassen wie am Nordkap“, sagt Amundsen.
Manch einer kommt nach Vardø, nur um zwei kulturelle Höhepunkte zu sehen: die nördlichste Festung der Welt, um das Jahr 1300 errichtet. Das achteckige Bollwerk ist noch immer Militäranlage, von Soldaten der norwegischen Streitkräfte in spezieller Mission bewacht.
Hinter ihren dicken Mauern fanden im 17. Jahrhundert zahlreiche Hexenprozesse statt: Anne, Lisbet, Karen und Ragnhilde, insgesamt 77 Frauen und 14 Männer wurden damals zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. An die 91 tragischen Schicksale erinnert das Hexenmahnmal, geschaffen vom Schweizer Stararchitekten Peter Zumthor mit einer Installation der französisch-amerikanischen Bildhauerin Louise Bourgeois – eindringlich mahnend und beklemmend.
Am Ufer des Eismeers und am Rand von Vardø, dem sterbenden Fischerort mit Chancen für eine bessere Zukunft. Immerhin heißt das Kino von Vardø „Aurora“ – Göttin der Morgenröte, am Himmel im Osten vor Sonnenaufgang.