Die ewige russische Misere: Die Oper „Drei Schwestern“ von Péter Eötvös bei den Salzburger Festspielen

Nach Moskau kommt hier niemand mehr. Die Eisenbahnlinie zwischen den beiden Tunnelöffnungen ist zerstört. Jede Verbindung zum Sehnsuchtsort der „Drei Schwestern“ in Anton Tschechowa Drama ist in Evgeny Titovs Inszenierung der  Opernversion von Péter Eötvös abgerissen. Die von Betontrümmern erfüllte Bühne der Felsenreitschule kennt keinen Ausweg, was eine der Frauen am Ende noch unterstreicht, wenn sie ein Tor auf eine der Betonwände malt.

Die Musik der 1998 in Lyon uraufgeführten beginnt mit einem Akkordeonsolo voller Melancholie und Abschied. Die Inszenierung treibt diesen Grundton alle Nuancen aus, indem sie diese absichtsvoll zeit- und ortlose Oper dazu benutzt, wieder einmal die hoffnungslose Geschichte der russischen Misere zu erzählen, die schon voriges Jahr bei Weinbergs „Der Idiot“ und Prokofjews „Der Spieler“ den Spielplan der Salzburger Festspiele durchzog. 

Die bei Tschechow operettenhafte Gegenwart von Militär in der Kleinstadt wird hier – ziemlich erwartbar – ins Katastrophale gesteigert. Der Tunnelmund auf der rechten Seite spuckt blutige Verwundete aus, beim in der Oper dreimal aus verschiedenen Perspektiven geschilderten Stadtbrand denkt der Zuschauer unweigerlich an die russischen Luftangriffe auf zivile Ziele in der Ukraine, obwohl die Kostüme weitgehend historisch bleiben (Ausstattung: Rufus Didwiszus, Emma Ryott).

Cameron Shahbazi als Mascha.
Cameron Shahbazi als Mascha.
© SF/Monika Rittershaus
Cameron Shahbazi als Mascha.

von SF/Monika Rittershaus

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Ein russisches Selbstgespräch

Titov, der 2023 „Le nozze di Figaro“ an der Bayerischen Staatsoper mit eher mäßigem Erfolg in eine Cannabisgärtnerei verlegte, wollte offenbar primär Tschechows Zeitdiagnostik inszenieren, und auch das ohne dessen komödiantischen Anteil. Das steht quer zu Eötvös’ postmodernem Glasperlenspiel, das in der Lyoner Uraufführung von 1998 von einem japanischen Butoh-Spezialisten auf die Bühne gebracht wurde und das Thema Abschied sehr abstrakt verhandelt. 

Diese extreme Überhöhung ins Allgemeine hat Titov zurückgenommen: Man begegnet dem üblichen Personal der russischen Literatur mit Schwätzern, Besoffenen und vergeblich Liebenden, die zu antriebslos sind, um ihre Gefühle zu kämpfen. Für Alte und Kranke interessiert sich niemand, und mitmenschliche Empathie ist jenseits der Rhetorik auch niemandes Stärke.

Die Aufführung betont die Schwächen dieser Oper

Dieses russische Selbstgespräch führt bei Außenstehende, die den Dialogen mit Hilfe ihrer Erinnerung an eine Aufführung des Dramas oder durch die Lektüre der Übertitel folgen können, zu von Sequenz zu Sequenz schwindendem Interesse. Dauergejammer ist außerdem weder im Privatleben noch in der Öffentlichkeit einer Bühne besonders abendfüllend, und zu tragischer Größe mag es sich leider auch nicht entwickeln.

Jörg Schneider (Doktor), Dennis Orellana (Irina) und Aryeh Nussbaum Cohen (Olga) in "Drei Schwestern".
Jörg Schneider (Doktor), Dennis Orellana (Irina) und Aryeh Nussbaum Cohen (Olga) in „Drei Schwestern“.
© SF/Monika Rittershaus
Jörg Schneider (Doktor), Dennis Orellana (Irina) und Aryeh Nussbaum Cohen (Olga) in „Drei Schwestern“.

von SF/Monika Rittershaus

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Und so sitzt man in der Felsenreitschule und wundert sich, wie diese Aufführung vor allem die Schwächen dieser an kleinen und großen Theatern seit 20 Jahren mit großem Erfolg gespielten Oper betont. Denn die postmoderne Dramaturgie dreier Sequenzen erweist sich in Salzburg als nicht besonders aufregend, weil sich die unterschiedlichen Perspektiven zu sehr ähneln, Kontraste vermieden werden und das gleichförmig langsame langsame Grundtempo irgendwann lähmend wirkt.

Die Oper "Drei Schwestern" in der Felsenreitschule.
Die Oper „Drei Schwestern“ in der Felsenreitschule.
© SF/Monika Rittershaus
Die Oper „Drei Schwestern“ in der Felsenreitschule.

von SF/Monika Rittershaus

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Die Charakterisierung der Figuren durch begleitende Instrumentalsoli hat zwar ihren Reiz, der in der riesigen Felsenreitschule theoretisch bleibt. Aber Eötvös’ große Stärke kommt trotzdem heraus: Er konnte, ohne seine Verwurzelung in der Avantgarde der Neuen Musik im mindesten zu leugnen, ganz wunderbar für Stimmen schreiben. Und die Begleitung durch ein nur 18-köpfiges Instrumentalensemble rückt die Sängerinnen und Sänger auch angemessen in den Mittelpunkt.

Ein Fest für Fans von Countertenören

So desinteressiert die Inszenierung an fluiden Geschlechterrollen wirkt, so faszinierend sind die Terzette der mit Countertenören besetzen Schwestern in ihren herben Süße anzuhören. Und wie schon in den aktuellen Salzburger Vivaldi- und Händel-Aufführungen kann man auch hier bewundern, wie sich die Gesangskunst in diesem Punkt weiterentwickelt hat. 

Weder Cameron Shahbazi (Mascha) noch Aryeh Nussbaum Cohen (Olga) lassen sich bei irgendwelchen Härten oder gequetschten Tönen erwischen. Die Stimme von Dennis Orellana (Irina) klingt so rund nach Mezzosopran, dass man ihn anfangs tatsächlich für eine Frau hält.

Eva Christine Just (Mütterchen), Aryeh Nussbaum Cohen (Olga), Dennis Orellana (Irina) in "Drei Schwestern".
Eva Christine Just (Mütterchen), Aryeh Nussbaum Cohen (Olga), Dennis Orellana (Irina) in „Drei Schwestern“.
© SF/Monika Rittershaus
Eva Christine Just (Mütterchen), Aryeh Nussbaum Cohen (Olga), Dennis Orellana (Irina) in „Drei Schwestern“.

von SF/Monika Rittershaus

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Auch die weitere Besetzung mit Jacques Imbrailo (Andrej) und Mikolaj Trabka (Tusenbach) hält da mühelos mit. Das auf der Bühne spielende zweite Orchester des Klangforums Wien unter Alphonse Cemin zeigte sich erst beim Schlussapplaus: Es wirkt mehr als Verstärkung und Klangkulisse des von Maxime Pascal straff geleiteten Ensembles im Graben.

Das alles ist von höchster  künstlerischer Qualität. Aber was soll der westeuropäische Zuschauer mit seinen eigenen Problemen mit der innerrussischen Identitätssuche anfangen? Und was trägt die wiederholte Darstellung der russischen Misere in ihrer unpolitischen Fixierung auf das Individuum und seine Psychologie zur Gegenwartsdiagnose bei? Wenn der Salzburger Aufführung zu trauen ist: nicht viel.

Der Dirigent Maxime Pascal mit dem Regisseur Evgeny Titov (re.)
Der Dirigent Maxime Pascal mit dem Regisseur Evgeny Titov (re.)
© Jan Friese
Der Dirigent Maxime Pascal mit dem Regisseur Evgeny Titov (re.)

von Jan Friese

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Und so hätte man eine Bitte an die im Westen lebenden Russen: Nervt uns bitte erst dann wieder mit euren Seelennöten, wenn eure Selbsttherapie einen wesentlichen Schritt weitergekommen ist.

Wieder am 12., 21. und 24. August in der Felsenreitschule, Restkarten unter salzburgfestival.at