„Politische Sachfragen sind fast immer auch Machtfragen“, ist einer der Schlüsselsätze in der Autobiografie, die Angela Merkel zusammen mit Beate Baumann verfasst hat – ihrer engsten Beraterin und Vertrauten über Jahrzehnte hinweg. „Wer es schafft, Begriffe zu prägen, ist erfolgreich, inhaltlich wie machtpolitisch.“ Der Zusammenhang dieser Passage gilt nicht etwa der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner – einer der konkurrierenden Parteien also. Gemeint ist eine CDU-Kommission, die unter der Überschrift „Neue Soziale Marktwirtschaft“ die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft auf den Prüfstand stellen und erneuern sollte.
Merkel war soeben CDU-Parteivorsitzende geworden. Gegen männliche Konkurrenten, deren Hahnenkämpfe in Gremien Merkel sorgsam beobachtete und auch witzig imitieren konnte, hatte sie sich zu behaupten. Bei denen aber, so nahm es Merkel (und gewiss auch Baumann) wahr, schrillten die Alarmglocken, als sie persönlich auch den Vorsitz der Arbeitsgruppe übernahm. Die einen sorgten sich, Merkel wolle mit Traditionen der Marktwirtschaft brechen. „Die anderen wollten mir – eher schnöde – den Erfolg nicht gönnen. Und nochmals: „Wie gesagt, Sachfragen sind fast immer auch Machtfragen, und wer Begriffe prägen kann, ist erfolgreich.“
Merkel: Putin hätte eine NATO-Anbindung der Ukraine nicht beeindruckt
Recht haben, ist in der Politik das eine. Recht bekommen, ist der eigentliche Schlüssel zum Erfolg. Merkel beschreibt die Machtkämpfe, die dazu gehören: Strategien, taktische Manöver, überraschende Volten, Personalpolitik, Bündnisse.
Episodenhaft und chronologisch wird das Leben erzählt, gegliedert in fünf Teile: Ihre Vergangenheit in der DDR („Ich wurde nicht als Kanzlerin geboren“), die Wendezeit („Ein demokratischer Aufbruch“), die Jahre in Bonn und der Aufstieg in der CDU („Freiheit und Verantwortung“), die ersten zehn Jahre als Kanzlerin mit Finanz- und Euro-Krisen sowie der ersten Überfälle von Putins Russland auf die Ukraine („Deutschland dienen I“), die Zeit von 2015 an, die sie mit der Flüchtlingskrise beginnen lässt („Deutschland dienen II“) und deren Auseinandersetzungen in Gesellschaft und Partei – wie sie schreibt – der eigentliche Anlass zum Verfassen ihrer Autobiografie waren.
Merkels und gewiss auch Baumanns Reflexionen münden nicht in Selbstkritik, welche ohnehin dem damals im Kanzleramt erdachten Wording widersprochen hätte, anders als ihr Vorgänger Schröder denke Merkel stets vom Ende her.
Die Schilderungen geben wieder, was zur jeweils fraglichen Zeit aus der Regierungszentrale kolportiert wurde. Russisches Gas sei billig, werde zuverlässig geliefert und liege im Interesse der deutschen Wirtschaft. Die Wehrpflicht sei voller Ungerechtigkeiten und teuer; ihre Aussetzung sei auf Parteitagen von CDU und CSU gefeiert worden. Putins Politik sei aggressiv, müsse aber berücksichtigt werden. Nicht einmal von der – von Merkel abgelehnten – Anbindung der Ukraine an die NATO hätte er sich beeindrucken lassen.
Die Aufnahme der Flüchtlinge entspreche europäischen Wertvorstellungen. Der Ausstieg aus der Kernenergie sei nach der Katastrophe von Fukushima unabweisbar gewesen und habe den Erwartungen der Parteien damals entsprochen. Politik muss sich nach Umständen und Mehrheiten richten, ist das Diktum des Buches. Bezogen auf Misserfolge der internationalen Klimaschutzpolitik zitiert Merkel sich selbst: „Gewusst hat man fast alles. Die Frage ist, ob man zu jeder Zeit mit der gleichen Kraft auf alles reagieren kann.“ Und: „Für mich war Radikalität nicht der Königsweg für politischen Erfolg.“
Aus Merkels Perspektive muss die Geschichte ihrer Kanzlerjahre nicht umgeschrieben werden. Eine Lebensbeichte nimmt sie nicht vor. Allenfalls lässliche Sünden werden eingeräumt. Hin und wieder schlecht vorbereitete Interviews zum Beispiel. Oder die Sache mit dem Rauchen. Ganz zu Beginn ihrer Tätigkeit als Frauen- und Jugendministerin hatte sie eine Journalistenreise nach Cottbus organisiert.
Der vom Autor dieser Zeilen verfasste F.A.Z.-Artikel war mit der Überschrift „Die jüngste in Kohls Kabinett raucht noch in der Öffentlichkeit“ versehen worden. Merkel hat es nicht vergessen. Weil es erstens der erste porträtartige Text über sie in einer überregionalen Zeitung war und weil zweitens ihr damaliger Lebensgefährte und späterer Ehemann Joachim Sauer ihr vorhielt, er habe ihr schon immer gesagt, sie solle das Rauchen und erst recht das öffentliche sein lassen. Merkel schreibt, sie habe sich daran gehalten.
„Es war eine einzige Katastrophe“
Der Weg nach oben war steinig. Helmut Kohl gab ihr nach der Bundestagswahl 1990 das Ministerium für Frauen und Jugend. Vier Jahre später wurde sie Umweltministerin, was auch daran lag, dass ihr Vorgänger Klaus Töpfer der Nutzung der Kernenergie kritisch gegenüberstand. Als ihr Gerhard Schröder, zur fraglichen Zeit Ministerpräsident in Niedersachsen, sagte, er sei mit Töpfer besser klargekommen, hielt sie dem machtbewussten Sozialdemokraten ein „Nun aber haben Sie es mit mir zu tun“ vor.
Das Machtbewusstsein Merkels wurde an dem bemerkenswerterweise im Buch nicht erwähnten Umstand deutlich, dass sie Töpfers Vertrauten und Staatssekretär Clemens Stroetmann, den eigentlichen Chef des Umweltministeriums, in den Ruhestand schickte. Merkel hatte ein Zeichen gesetzt. Auch Personalfragen sind Machtfragen. Nach Kohls Niederlage 1998, die Merkel hatte kommen sehen, wurde Wolfgang Schäuble Parteivorsitzender und sie CDU-Generalsekretärin.
Die Spendenaffäre des Ehrenvorsitzenden Kohl und anderer CDU-Politiker trafen 1999 Partei und Merkel unvorbereitet. Kohls Weigerung, wegen eines Versprechens die Namen der Spender nicht zu nennen, führte zu Spannungen. Merkel schreibt: „Es war eine einzige Katastrophe. Ich hielt es kaum aus. Und ich fühlte mich auch von Wolfgang Schäuble alleingelassen.“ Gemeinsam mit Baumann, ihrer Pressesprecherin Eva Christiansen und dem CDU-Bundesgeschäftsführer Willi Hausmann – einem ehemaligen Mitarbeiter Schäubles – beriet sie sich.
Christiansen habe vorgeschlagen, einen Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung in der Rubrik „Fremde Federn“ zu verfassen. Schäuble wurde nicht eingeweiht, weil er das Vorhaben wohl gestoppt hätte. Merkel schrieb. Baumann redigierte. Christiansen bot den Text der F.A.Z. an. Er erschien nicht als „Fremde Feder“, sondern im Nachrichtenteil. „Merkel: Die Zeit Kohls ist unwiederbringlich vorüber.“ Die von Kohl eingeräumten Vorgänge hätten der Partei Schaden zugefügt. „Die Partei muss also laufen lernen.“ Und: „Sie muss sich wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen.“
Merz, Wulff und Biedenkopf unterstützten Merkel
In der nachfolgenden Sitzung der vom Artikel überraschten Parteispitze sei sie vom stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz und den Ministerpräsidenten Christian Wulff und Kurt Biedenkopf unterstützt worden. Andere seien entsetzt gewesen – darunter Norbert Blüm, Kohls ehemaliger Arbeitsminister, und Roland Koch, Regierungschef in Hessen. Kleinteilig und auch anschaulich werden die Folgen beschrieben. Schäuble trat – wegen eigener Spendenverfehlungen – von Ämtern als Partei- und als Fraktionsvorsitzender zurück.
Merz wurde Fraktionschef. „Ich dachte nach. Machtpolitisch würde ich, davon war ich überzeugt, die Gelegenheit, Vorsitzende der neben der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zweiten großen Volkspartei in Deutschland zu werden, kein zweites Mal bekommen.“ Und ihr sei bewusst gewesen, dass sie dann auch bereit sein müsse, „Kanzler oder Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschlands zu werden“. Merkel wurde zur Parteivorsitzenden gewählt. „Ein wunderbarer Moment“, schreibt sie. Doch ihren feiernden Freunden habe sie gesagt: „Das war der letzte schöne Tag für lange Zeit.“
Für weitere zwanzig Jahre? Der von Parteifreunden erzwungene Verzicht auf die Kanzlerkandidatur 2002 wird geschildert – bis hin zum Frühstück in Wolfratshausen mit Edmund Stoiber, das freilich den Grundstein für weiteren Machterwerb Merkels legte. Sie nahm Friedrich Merz den Fraktionsvorsitz weg und wurde drei Jahre später Bundeskanzlerin.
Die Einsamkeit der Macht wird registriert. Nicht alle Zugeständnisse Merkels finden Eingang ins Buch. Die ehemals „jungen Wilden“ in der CDU, die die restriktive Ausländerpolitik Kohls und seines Innenminister Manfred Kanther für nicht mehr zeitgemäß hielten, sagten Merkel nur für den Fall dauerhafte Bündnispartnerschaft zu, dass sie ihre Reformvorstellungen unterstütze. Peter Altmaier, Ronald Pofalla und Norbert Röttgen gehörten dazu – und wurden dann wichtige Helfer in Partei, Fraktion und Bundesregierung.
Außer de Maizière und Baumann keine Freunde und Vertraute
Doch wird nicht ersichtlich, dass Merkel in der CDU ins Persönliche gehende Freunde und Vertraute gehabt hätte, außer natürlich Baumann und noch Thomas de Maizière, mit dem sie in den Wendejahren zu tun gehabt hatte. Über Netzwerke wie jene Parteifreunde, die sich in der Jungen Union kennengelernt hatten, konnte sie nicht verfügen. Ob sie es bedauerte? Ob sie es versucht hatte?
Aus ihren Erinnerungen ergibt es sich nicht. Um Pflicht, Verantwortung, Arbeit und Termine geht es – alles gepaart mit Vorsicht. Sich nicht in die Karten gucken lassen. Auch Schweigen gehört zur Machtpolitik, und all jene, die im engeren Umfeld mit ihr zu tun hatten, unterlagen einem (unausgesprochenen) Schweigegebot, was wiederum nur indirekt dem Buch zu entnehmen ist. Wie die CDU vom Kanzleramt aus geführt wurde? Wer an der sogenannten Morgenlage im Kanzleramt dabei war, dort, wo die wichtigsten innenpolitischen Angelegenheiten geregelt wurden? Wer gefördert und wer abgestraft werden sollte?
Manche ihrer Helfer, der Fraktionsvorsitzende Volker Kauder etwa und die wechselnden Kanzleramtschefs, konnten erzählen, in Gesprächen mit Merkel würden auch Differenzen offen ausgetragen. Doch Merkel hielt sich auch im Nachhinein – beim Verfassen des Werkes – an ihre eigenen Regeln von Vertraulichkeit und Geheimhaltung. Nette Nebensächlichkeiten gibt es auch: Linsensuppe im Kanzleramt. Besuche bei Fußballspielen.
Selbst Merz kommt halbwegs gut weg
Natürlich gab es zumal in ihrer eigenen Partei spekulative Befürchtungen, Merkel würde, wo nun alles vorüber ist, zur Auflagensteigerung politische und persönliche Abrechnungen vornehmen. Zumal Merkel seit dem Ausscheiden aus ihren Ämtern sich bei Parteitagen und anderswo in der Partei nicht mehr blicken ließ. Die Weggefährten müssen sich nicht sorgen. Nur der Streit mit dem CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer in Sachen Migrationspolitik wird zu dessen Lasten ausführlich geschildert. Mit ihm hatte Merkel gebrochen. Seehofer wird sich nicht darüber grämen.
Selbst Friedrich Merz kommt einigermaßen gut weg. Seinen Ehrgeiz habe sie geschätzt. Die von Merkel erzwungene Entlassung Norbert Röttgens aus dem Amt des Umweltministers spielt in den Erinnerungen keine Rolle. Schweigsam umging Merkel auch die Rücktritte von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (wegen seiner plagiierten Doktorarbeit) und der Bundespräsidenten Christian Wulff, der unglücklich agiert hatte, und Horst Köhler, der sich von Merkel im Stich gelassen fühlte.
Andere Weggefährten der Kanzlerin werden vergebens im Namensregister des Buches nachschauen. Philipp Rösler, FDP-Vorsitzender und zeitweise Vizekanzler wird ebenso wenig erwähnt wie Ralph Brinkhaus, der zum Ende der Kanzlerschaft Merkels gegen ihren Willen den langjährigen Fraktionsvorsitzenden Kauder abgelöst hatte.
Fehlt sonst noch was? Franz Münteferings Merkel 2005 mitgeteilte Bedingung gehört dazu, eine große Koalition gebe es nur, wenn sie von ihren „neoliberalen“ Ideen und Parteibeschlüssen ablasse. Umstandslos sagte Merkel zu. Oder auch die Ankündigung Klaus Schülers, ihres langjährigen Bundesgeschäftsführers und vielfach erfolgreichen Wahlkampforganisators, als Merkel 2016 noch nicht sicher war, ob sie 2017 abermals als Kanzlerkandidatin zur Verfügung stehe: „Frau Dr. Merkel, nur wenn Sie wieder antreten, werde ich den CDU-Wahlkampf organisieren. Sonst nicht“. Merkels und Baumanns Erinnerungen lassen Raum für eine umfassende Biografie der Kanzlerin.
Angela Merkel/Beate Baumann: Freiheit. Erinnerungen 1954 – 2021.
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2024. 736 S., 42,– €.